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SSAS-
stilfragen.
Grundlegungen
Geschichte der Ornamentik.
Von
Alois Riegl.
Mit 197 Abbildungen im Text.
Berlin 1893.
Verlag von Georg Siemens,
Nollendorfstr. 42.
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liuchrlruckcrei von Gu»tav .Schade (Otto I'rnncke) in Itcrlin N.
Inhalt.
Seite
I. Der geometrische Stil 1
II. Der Wappenstil 33
III. Die Anfänge des Pflanzenornaments und die Entwicklung der ornamen-
talen Ranke 41
A. Altoi'ientalisches 48
1. Egyptisches. Die Schaffung' des Pflaiizenornaments . 48
2. Mesopotamisches 86
3. Phönikisches 102
4. Persisches 109
B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst . 112
1. Mykenisches. Die Entstehung- der Eanke 113
2. Der Dipylon-Stil 150
3. Melisches 154
4. Rhodisches 160
5. Altböotisches. Frühattisches 172
6. Das Eankengeschlingc 178
7. Die Ausbildung der Ranken-Bordüre 191
8. Die Ausbildung der Ranken-Füllung 197
9. Das Aufkommen des Akanthus-Oi'naments 208
10. Das hellenistische und römische Pflanzenornament . . 233
a. Die flache Palmetten-Ranke 241
b. Die x\kanthusranke 248
IV. Die Arabeske 258
1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen
Kunst 272
2. Frühsaracenische Rankenornamentik ....... 302
Einleitung.
„Grundleg'nngen zu einer Geschichte der Ornamentik" kündigt der Titel als Inhalt dieses Buches an. Wie Mancher mag da schon bei Lesung des Umschlags misstrauisch die Achseln zucken! Giebt es denn auch eine Geschichte der Ornamentik? Es ist dies eine Frage, die selbst in unserem von historischem Forschungseifer ganz erfüllten Zeitalter eine unbedingt bejahende Antwort wenigstens bisher durchaus noch nicht gefunden hat. Man braucht dabei gar nicht an jene Radi- kalen zu denken, die überhaupt alles ornamentale Kunstschaften für originell erklären, eine jede Erscheinung auf dem Gebiete der dekora- tiven Künste als unmittelbares Produkt aus dem jeweilig gegebenen Stofi:' und Zweck ansehen möchten. Neben diesen Extremsten unter den Extremen gelten schon als Vertreter einer gemässigteren Anschauung Diejenigen, die den dekorativen Künsten wenigstens soAveit als die so- genannte höhere Kunst, insbesondere die Darstellung des Menschen und seiner Thaten und Leiden hineinspielt, eine historische Entwicklung von Lehrer zu Schüler, Generation zu Generation, Volk zu Volk, ein- zuräumen geneigt sind.
Allerdings giebt es und gab es seit dem ersten Aufkommen einer kunsthistorischen Forschung allezeit eine Anzahl von Leuten, die sich berechtigt glaubten, auch die bloss ornamentalen Formen in der Kunst vom Standpunkte einer stufenweisen Entwicklung, also nach den Grund- sätzen historischer Methodik zu betrachten. Es waren dies naturgemäss hauptsächlich die Buchgelehrten , die schon durch ihren Bildungsgang auf Gymnasien und Universitäten mit der philologisch-historischen Me- thodik und Betrachtungsweise erfüllt, dieselbe auch auf ornamentale Erscheinungen anwenden zu müssen vermeinten. Die Art und Weise aber, in welcher diese Anwendung historischer Methodik auf die Be-
Y£ Einleitung".
traclitmig- (Ut Ornamentik bisher zu li'esehelH-n pHeg'te, ist höchst bezeichnend für den ganz überwifgx'uilcu Eintius^s, den die in erster Linie erwähnten extremeren Kreise auf die üttentliche ^Meinung in Dingen der omamentah-n Künste ausübten. Historisehe Weehsell^ezüge zu behaupten wagte man nur schüchtern, und bloss für eng begrenzte Zeitperioden und nahe benachbarte Gebiete. Vollends wo die unmittel- bare Bezugnahme der Ornamente auf reale Dinge der Aussenwelt, auf organische Lebewesen oder Werke von ^lenschenhand aufhörte, dort machte die Kühnheit der Forseher mit entschiedener Scheu ein Halt. "Wo einmal die mathematische Darstellung von Symmetrie und Rhythmus in abstrakten Lineamenten, wo der Bereich des sogen, geometrischen Stils begann, dort wagte man es nicht nielir, den künstlerisclien Nach- ahmungstrieb des Menschen und die ungleiche Befähigung der einzelnen Völker zum Kunstschaffen gelten zu lassen. Die Eile, mit der man je- weilig sofort versicherte, dass man ja nicht so ungebildet und naiv wäre zu glauben, dass etwa ein Volk dem anderen ein ,,einfaches" Mäanderliand abgeguckt haben könnte, und die Entschuldigung, um die man viel- mals bat, wenn man sich herausnahm, etwa ein planimetrisch stilisirtes Pflanzenmotiv mit einem ähnlichen aus fremdem Kunstbesitz in ent- fernte Vei'bindung zu bringen, lehren deutlich genug, welch' siegreichen Ten'orismus jene Extremen auch auf die ..Historiker" unter den mit der Ornamentforschung Beflissenen ausübten.
"Worin liegt nun der Erklärungsgrund für diese Verhältnisse . die in den letztverflossenen 25 Jahren einen so bestimmenden und vielfach lähmenden Einfluss auf unsere gesammte Kunstforschung ausgeübt haben? Er liegt vor Allem in der materialistischen Auffassung von dem Ursprünge alles Kunstschaff'ens, Avic sie sich seit den sechsziger Jahren unseres Jahrhunderts herausgebildet und fast mit lincni Schlage .ilU' kunstübenden, kunstliebemlcii uiid kuiistrorsrli.iKlcii Kreise iur sieh gewonnen liat. Auf (Jottfricd Sem]i<r ])flegt man die Theorie von der teclinisch-materiellen Entstclrnng der ältesten Ornamente und Kunst- formen überhaupt zurückzuführen. Es geschieht dies mit demselben, oder besser gesagt, mit rlx-nsowenig Recht, als die Identiiieirung des modernen Darwinismus mit Darwin: die Parallele -- Darwinismus und Kunstmaterialismus - scheint mir um so zutrelfender, als zwischen diesen beiden Erscheinungen zweifellos ein inniger kausaler Zusannnen-
Einleitung". vri
hang existirt, die in Rede stehende materialistische Strömung- in der Auffassung' der Kunstanfänge nichts Anderes ist, als so zu sagen die Uebertragung des Darwinismus auf ein Gebiet des Geisteslebens. vSo wie aber zwischen Darwinisten und Darwin, ist auch zwischen Sem- perianern und Semper scharf und streng zu unterscheiden. Wenn Sem- per sagte: beim Werden einer Kunstform kämen auch Stoff und Technik in Betracht, so meinten die Semperianer sofort schlechtweg: die Kunstform wäre eine Produkt aus Stoff' und Technik. Die „Technik" wurde rasch zum beliebtesten Schlagwort; im Sprachgebrauch erschien es bald gleichwerthig mit „Kunst" und schliesslich hörte man es so- gar öfter als das Wort Kunst. Von „Kunst" sprach der Naive, der Laie; fachmännischer klang es, von „Technik" zu sprechen.
Es mag paradox erscheinen, dass die extreme Partei der Kunst- materialisten auch unter den ausübenden Künstlern zahlreiche An- hänger gefunden hat. Dies geschah gewiss nicht im Geiste Gottfried Sempers, der wohl der Letzte gewesen wäre, der an Stelle des frei schöpferischen Kunstwollens einen Avesentlich mechanisch-materiellen Xachahmungstrieb hätte gesetzt wissen wollen. Aber das Missverständ- niss, als handelte es sich hiebei um die reine Idee des grossen Künstler- Gelehrten Semper, war einmal vorhanden, und die natürliche Autorität, welche die ausübenden Künstler in Sachen der „Technik" genossen, brachte es ganz wesentlich mit sich, dass die Gelehrten, die Archäologen und Kunsthistoriker, klein beigaben und Jenen das Feld überliessen, wo nur irgendwie die „Technik" in Frage kommen konnte, von der sie — die Gelehrten — selbst entweder gar nichts oder nur wenig ver- standen. Erst im Laufe der letzteren Jahre wurden auch die Gelehrten kühner. Das Wort „Technik" erwies sich als äusserst geduldig, man fand, dass die meisten Ornamente in verschiedenen Techniken darstell- bar waren und thatsächlich dargestellt Avurden, man machte die fröh- liche Erfahrung, dass sich mit Techniken trefflich streiten Hess, und so hub allmälig in den archäologischen und kunstgewerblichen Zeit- schriften jene Avilde Jagd nach Techniken an, deren Ende vielleicht nicht früher zu erwarten steht, bis alle technischen Möglichkeiten für ein jedes minder komplicirte Ornament erschöpft sein werden und man sich am Ende zuverlässig dort befinden wird, von wo man ausge- gangen ist.
yjjj Einleitung".
Inmitten einer solchen Stimmung der Geister wagt es dieses Buch mit Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik hervorzutreten. Dass es vorab nur Grundlegungen sind und nichts Anderes sein Avollen, rechtfertigt sich -wohl von selbst. Wo nicht bloss das Terrain Schritt für Schritt hart bestritten ist,. sondern sogar die Grundlagen mehrfach in Frage gestellt Averden, da müssen erst einige sichere Positionen er- obert, einige fest verbundene Stützpunkte gewonnen werden, von denen aus dann späterhin eine umfassende und systematische Gesammtbear- beitung wird gewagt werden können. Ferner brachte es die Natur der Sache mit sich, dass der „Thätigkeit des Yerneinens" in diesem Buche ein allzu grosser Raum zugemessen werden musste, als sich mit einer positiven, pragmatischen Geschichts-Darstellung vertragen Avürde: er- scheint es doch als die nächste, dringendste Aufgabe, die fundamen- talsten, die schädlichsten, der Forschung bisher hinderlichsten Irrthümer und Vorurtheile hinwegzuräumen. Dies ist ein weiterer Grund, Avarum die in diesem Buche niedergelegten Ideen zunächst in Form von ..(irund- legungen" vor die Oeff'entlichkeit treten.
Unser Erstes Avird nach dem Gesagten sein müssen, die Existenz- berechtigung dieses Buches überhaupt naclizuweisen. Dieselbe er- scheint insolange in Frage gestellt, als die technisch-materielle Ent- stehuugstlieorie für die ursprünglichsten, anfänglichsten Kunstformen und Ornamente unbestritten zu Kraft besteht. Bleibt es doch in solchem Falle ewig zAveifelhaft, wo der Bereich jener spontanen Kunstzeugung aufliört und das historische Gesetz von Vererbung und Erwerl)ung in Kraft zu treten beginnt. Das erste Kapitel musste daher der Frage nach der Stichhaltigkeit der technisch-materiellen Entstehungstheorie der Künste gewidmet Averden. In diesem Kapitel, das die Erörterung des "Wesens und Ursprungs des geometriscli c n Stils in der i\'l>er- sclirift ankündigt, hoffe ich dargelegt zu haben, dass nicht bloss kein zwingender Anlass vorliegt, der uns nöthigen Avürde a priori die ältesten geometrischen ^'erzierungen in einer bestimmten 'JVclmik, ins1)esondere der textilen Künste, ausgeführt zu vermutlien. sondern, dass die ;iltesten Avirklich historischen KunstdenkniähT «hn lie/üglielien Ann.ihinen Aiel eher Aviderspreclieii. Zu dem gh-ielieii Ergebnisse Averden wir durch andere Erwägungen von mehr allgemeiner Art geluhrt. AVeii eleineiilarer näralicii, als das Bedürfniss des Menschen nach Scimtz (k's Leibes
Einleitung'. jX
mittels textiler Produkte tritt uns dasjenige nacli Sehmuck des Leibes entgegen, und Verzierungen, die dem blossen Schmückungstriebe dienen, darunter auch linear-geometrische, hat es wohl schon lange vor dem Aufkommen der dem Leibesschutze ursprünglich gewidmeten textilen Künste gegeben. Damit erscheint ein Grundsatz hinweggeräumt, der die gesammte Kunstlehre seit 25 Jahren souverän beherrschte: die Identificirung der Textilornamentik mit Flächen Verzierung oder Flach- ornamentik schlechtweg. Sobald es in Zweifel gestellt erscheint, dass die ältesten Flächenverzierungen in textilem Material und textiler Technik ausgeführt Avaren, hört auch die Identität der beiden zu gelten auf. Die Flächenverzierung wird zur höheren Einheit, die Textilverzierung zur subordinirten Theileinheit, gleich- werthig anderen flächenverzierenden Künsten.
Die Einschränkung der Textilornamentik auf das ihr zukommende Maass an Bedeutung bildet überhaupt einen der leitenden Gesichts- punkte dieses ganzen Buches. Ich muss gestehen, dass es zugleich der Ausgangspunkt für alle meine einschlägigen Untersuchungen geAvesen ist, — ein Ausgangspunkt, zu dem ich durch eine nunmehr achtjährige Thätigkeit an der Textilsammlung des K. K. österreichischen Museums für Kunst und Industrie gelangt bin. Ja ich will, selbst auf die Ge- fahr hin ob dieser Sentimentalität bespöttelt zu werden, bekennen, dass ich mich eines gewissen Bedauerns nicht erwehren konnte, dazu verurtheilt zu sein, gerade derjenigen Kunst, zu der ich infolge der langjährigen Verwaltung einer Textilsammlung in eine Art persönlichen Verhältnisses getreten bin, einen so wesentlichen Tlieil ihres Nimbus rauben zu müssen.
War man erst zu der Aufstellung des folgenschweren Lehrsatzes von der ursprünglichen Identität von Flächenverzierung und Textil- verzierung gelangt, so war für das Geltungsgebiet der Textilornamentik fast keine Grenze mehr gezogen. Von den geradlinigen geometrischen Ornamenten, mit denen man den Anfang gemacht hatte, gelangte man alsbald bis zu den künstlerischen Darstellungen der komplicirtesten organischen Wesen, Menschen und Thiere. So fand man u. a., dass die Verdoppelung und symmetrische Gegenüberstellung von Figuren zu beiden Seiten eines trennenden Mittels hinsichtlich ihrer Entstehung auf die textile Technik der Kunstweberei zurückzuführen wäre. Bei
X Etnleitiiug-.
der "Weiten Yerbreituiiü' dieses oriianientalen Gruiipiruniissclieiuas. das man auch den Wappen st il genannt hat, hielt ich es für noth wendig, demselben das zweite Capitel zu -widmen, um darin auseinander zu setzen, dass auch diesbezüglich jeglicher Nachweis, ja sogar die "Walir- scheinlichkeit fehlt, dass man zur Zeit, ans welcher die ältesten Denk- mäler im "Wapi^enstil stammen, sich auf die Kenntniss einer so aus- gebildeten Kunstweberei wie sie die technische Voraussetzung hiefür bilden müsste, verstanden hätte, und dass wir anderseits im Stande sind, das Aufkonnnen des Wappenstils noch aus anderen, allerdings nicht so greifbar „materiellen" Gründen zu erklären.
Die Grundtendenz der beiden ersten Capitel dieses Buches er- scheint hiernach als eine verneinende, Avenngieich überall versucht wird, an Stelle des Umgestürzten ein Neues, Positives zu setzen. Was insbesondere den geometrischen Stil anbelangt, so erschien es als das Dringendste, einmal die damit verknüpften falschen Vorstellungen hinwegzuräumen, das Vorui'theil von der angeblichen Geschichtslosig- keit dieses Stils, und seiner unmittelbar technisch-materiellen Abkunft zu brechen. Der Umstand, dass die mathematischen Gesetze von Sym- metrie und Rhythmus, als deren Illustrationen die einfachen Motive des geometrischen Stils gelten können, auf dem ganzen Erdball mit ge- ringen Ausnahmen die gleichen sein müssen, Avährend die organischen Wesen und die Werke von Menschenhand dem von ihnen inspirirtcn Künstler mannigfache Abwechslung gestatten, erschwert die Tuter- suchung über geometrische Stilgcbiete nach historischem Gesichtspunkte allerdings ganz ungemein. Spontane Entstehung der gleichen geome- trischen Ziermotive auf verschiedenen Punkten der Erde erscheint in der That nicht ausgeschlossen; aber aucli das historische Moment ^\ ii'd man hier jeweilig mit voller Unbefangenheit in Rechnung ziehen dürfen. I'^inzelne Völker sind den übrigen gewiss in dem gleichen Maasse vor- angeeilt, als allezeit einzelne l)egabtere Individuen über ihre Neben- menschen sieh erhoben lial>en. Und von der gi'ussen .Masse gilt in dei- grauen Vergangenheit gewiss dassell)e, was hent/niage: sie ätl't lieher nach, als dass si«- selbst erfindet.
Festenin Boden gewinnt die Oi'nainenti'drsehiiiig \<>n <lein Angen- blicke an, da die Pflanze nnt<;r die Motive aufgenommen erscheint. Der nachlnldungsfähigen Pll.in/.enspecies gieljt es unendlich mehr, als
Einleitung*. XI
der abstrakt-symmetrischen Gebilde, die sich auf Dreieck, Quadrat, Eaute und wenige andere beschränken. Daher hat auch die klassische Archäologie bei diesem Punkte mit ihren Forschungen eingesetzt; ins- besondere der Zusammenhang der hellenischen Pflauzenmotive mit den am Eingange aller eigentlichen Kunstgeschichte stehenden alt- orientalischen Vorbildern ist bereits vielfach Gegenstand des Nach- weises und eingehender Erörterungen gewesen. Wenn trotzdem von Seite der deutschen Archäologie bisher kein Versuch gemacht Avurde, die Geschichte des für die antike Kunst als so maassgebend anerkann- ten Pflanzenornaments im Zusammenhange von altegyptischer bis römischer Zeit darzustellen, so muss der Grund hiefür wiederum nur in der übermächtigen Scheu gesucht werden, die mau davor empfand, ein „blosses Ornament" zum Substrat einer weiter ausgreifenden histori- schen Betrachtung zu machen. Der Schritt nun. dessen sich ein an deutschen Schulen Herangebildeter nicht zu unterfangen getraute, wurde vor Kurzem von einem Amerikaner gemacht. W, G. Goodyear war der Erste, der in seiner Grammar of the lotus die gesammte antike Pflanzenornamentik und ein gut Stück darüber hinaus als eine Fort- bildung der altegyptischen Lotusornamentik erklärt hat; den treiben- den Anstoss zu der universalen Verbreitung dieser Ornamentik glaubt er im Sonnenkultus erblicken zu sollen. Um die technisch-materielle Entstehungstheorie der Künste kümmert sich dieser amerikanische Forscher augenscheinlich ebensowenig, wie um Europas verfallene Schlösser und Basalte; der Xame Gottfried Sempers ist mir im ganzen Buche, wenn ich nicht sehr irre, nicht ein einziges Mal aufgestossen.
Im Grunde ist der Hauptgedanke Goodyears nicht ganz neu : sein unbestrittenes Eigenthum ist l)loss der entschlossene Radikalismus, wo- mit er seiner Idee universale Bedeutung zu geben bemüht ist, sowie die Motivirung für das Zustandekommen der ganzen Erscheinung.
"Was einmal diese letztere — die Berufung auf den Sonnenkultus — betrifft, so schiesst der Autor damit zweifellos weit über das Ziel hin- aus. Schon für die altegyptische Ornamentik bleibt der allmächtige Einfluss des Sonnenkult-Symbolismus mindestens zweifelhaft; vollends unbewiesen und auch unwahrscheinlich wird er, sobald wir die Grenzen Egyptens überschreiten. Symbolismus Ist gewiss auch einer der Fak- toren gewesen, die zur allmählichen Schaffung des historisch gewordenen
3H Einleitung.
Ornameutenschatzes der Menschheit beigetragvu halten. Aber denselben zum allein maassgebenden Faktor zu stempeln, heisst in den gleichen Fehler verfallen, wie Diejenigen, die die Technik für einen solchen Faktor ansehen möchten. Mit diesen letzteren berührt sich Goodyear übrigens überaus nahe in dem sichtlichen Bestreben, rein psychisch- künstlerische Beweggründe für die Erklärung ornamentaler Er- scheinungen womöglich zu vermeiden. Wo der Mensch augenschein- lich einem immanenten künstlerischen Schaffungstriebe gefolgt ist, dort lässt Goodyear den Symbolismus walten, ebenso Avie die Kunstmateria- listen in dem gleichen Falle die Teclmik, den zufälligen todten Zweck in"s Feld führen.
"Was andererseits die fast schrankenlose Ausdeluiung der A'orbild- lichkeit des Lotus auf alle Gebiete der antiken Ornamentik (z. B. selbst auf die prähistorischen Zickzackbänder) anbelangt, so liegt auch hierin eine Uebertreibung gleich derjenigen, welcher sich die Kunstmateria- listen und die Darwinisten hingegeben haben. So will Goodyear his- torische Zusammenhänge an vielen Punkten erblicken , wo eine be- sonnene Forschung sie unbedingt znrückw<'isen niuss. Da er überall nur Uniformes sehen will, trübt er sich geflissentlich den Blick für feinere Unterscheidungen. Auf diese Weise konnte es gar niclit anders geschehen, als dass er u. a. den echt hellenischen Kern in der mykenischen Oi-namentik übersah, und damit zugleich den viel- leicht wichtigsten Punkt in der gesammten Entwicklung der klassi- schen Ornamentik unberücksichtigt liess.
Die überwiegende Bedeutung, die dem Pllanzenornamenl inner- halb der antiken Ornamentik sowohl an und für sich, als mit Bezug auf eine richtige Beurtheilung und Würdigung dieser Orn.iinentilv inner- halb der rJesammtgeschichte der dekorativen Künste zukommt, hat Tioodyear ebenso klar erkainit, wie schon viele andere Forscher vor ihm. Im AVintersemester 1890/91 habe ich an der Wiener Universität Vorlesungen über eine „rieschiclii"' dii- ( )rn;iininiik" gelialten, inner- halb welcher der Darstellung der Entwicklung des Pfianzenornaments von frühester antiker Zeit an der vornehmste Platz eingeräumt war. Ein Tlieil vom Inhalte dieser Vorlesungen ist es, den ich im :5. Kapitel dieses Buches wiedergebe, mit geringen Znsätzen, die lianptsächlich durch die nothwendig gewoi-denen P>(zi<linngen auf das mittlerweile
Einleitung". -^m
erschienene Biicli Goodyear's veranlasst wurden. Entlehnung von Mo- tiven aus altorientalischem Kunstbesitz seitens der griechischen Stämme bin auch ich geneigt in umfassendem Maasse anzunehmen. Die Aus- gestaltung dieser Motive im reinen Sinne des Formschönen ist ein längst anerkanntes Verdienst der Griechen. Was aber das eigenste, selbst- ständigste und fruchtbarste Produkt der Griechen gewesen ist, das hat nicht bloss Goodyear ignorirt, sondern es wurde auch von Forschern un- beachtet gelassen, die mit Eifer nach selljständigen occidentalen Keimen und Regungen in der frühgriechischen Kunst gesucht Iiaben. Es ist dies die Erfindung der Ranke, der beweglichen, rhythmischen Pflanzen- ranke, die wir in sämmtlichen altorientalisehen Stilen vergebens suchen, die dagegen auf nachmals hellenischem Boden uns schon in der myke- nischen Kunst fertig entgegentritt. Die Blüthenmotive der hellenischen Ornamentik mögen orientalischer Abkunft gewesen sein : ihre in schönen Wellenlinien dahinfliessende Rankenverbindung ist speciflsch griechisch. Die Ausbildung der Rankenornamentik steht von da an überhaupt im Vordergrunde der Fortentwicklung der ornamentalen Künste. Als saumartig schmales Wellenband mit spiraligen Abzweigungen sehen wir die Ranke zuerst in die Welt treten, als reichverzweigtes Laubge- winde überzieht sie in reifer hellenistischer Zeit ganze Flächen. So geht sie durch die römische Kunst hindurch in das Mittelalter, in das abendländische sowohl wie in das morgenländische, das saracenisclie, und nicht minder in die Renaissance. Das Laubwerk der Kleinmeister ist ein ebenso legitimer Abkömmling der antik -klassischen Pflanzen- rankenornamentik, wie das spätgothische Krieclnverk. Jener fort- Avährende kausale Zusammenhang im menschlichen Kunstschaffen aller bisherigen Geschichtsperioden, der sich uns bei der historischen Be- trachtung der antiken Kunstmythologie und der christlichen Bilder- typik offenbart: er lässt sich nicht minder für das ornamentale Kunst- schaffen herstellen, sobald man das Pflanzenornament und die Pflanzen- ranke durch alle Jahrhunderte hindurch von ihrem ersichtlich ersten Aufkommen bis in die neueste Zeit verfolgt. Eine so weitgespannte Aufgabe in vollem Umfange lösen zu wollen, erschien im Rahmen dieses Buches undurchführbar. Ich habe mich daher darauf beschränkt, die Entwicklung des Pflanzenrankenornaments von seinen Anfängen bis zur hellenistischen und römischen Zeit im Einzelnen aufzuzeigen.
XIV
Einleitung'.
Das diesen Ausführungen gewidmete 3. Ka]»itel glaube ich unter Er- wägung der also klargestellten Bedeutung des Gegenstandes als eine ganz wesentliche „Grundlegung" betrachten zu düi'fen.
Solange man in der PÜanzenornamentik an den überlieferten stllisiiten Typen festhielt, ist der historische (Jang als solcher unschwer festzustellen: dagegen müsste eine grosse Unsicherheit in den Schluss- folgerungen eintreten in dem Momente, wo der ■Mensch in der Zeich- nung der Ornamente der natürlichen Erscheinung einer vorbildlichen Ptianze möglichst nahe zu konnnen trachten würde. Z. B. kann die Projektion der Palmette, die wir in Egypten und Griechenland an- treffen, kaum beiderseits selbständig erfunden sein, da dieses Motiv eine dm'chaus nicht in der natüi'lichen Erscheinung begründete Blüthen- form wiedergiebt: der Schluss ist unabAveisbar, dass das Motiv nur an einem Orte entstanden sein kann und nach dem andern übertragen worden sein muss. Ganz anders, wenn wir an zwei ornamentalen "Werken verschiedener Herkunft etwa eine Kose in ihrer natürlichen Erscheinung dargestellt fänden: die natürliche Erscheinung der Rose in den verschiedensten Ländern ist im Allgemeinen die gleiche: eine selbständige Entstehung jener Kopien da und dort wäre hienach sehr wolil denkbar. Nun ist es aber ehi Erfaiirungssatz, der sich uns ge- rade aus einer Gesammtbetrachtung des Plianzenornaments ergeben Avird , dass eine realistische Darstellung von Blumen zu dekorativen Zwecken, wie sie heutzutage im Schwange ist, erst der neueren Zeit angeliört. Der naive Kunstsinn früherer Kulturperioden verlangte vor Allem die Beobachtung der Symmetrie, auch in Nachbildungen von Naturwesen. In der Darstellung von Mensch und Thier hat man sich frülizeitig davon emancipirt, sich mit AiKudiuing derselben im W,ii)iien- stil u. dergl. beJiolfen; ein so untergeordnetes, scheinbar lebloses Ding wie die Pflanze dagegen hat man noch in den reifesten Stilen ver- flossener .Talirhunderte symmetrisirt, stilisirt — namentlich, sofern nini dem l'll;in/<'nliild«- nicht eine gegensiiiiKllielie iledciining nniei'lt ^te, sondern in der Tluit ein lth>sses Ornament l)i'al)sicliiigi w;ir. \in\ der Stilisirung der ältesten Zeit zum J<(;alismus der luddernen ist man aber nicht mit einem Schlage übergetreten. Zu wiederliolten Malen begegnen wir in der Geseliiclite des Pflanzenornaments einer Neigung ztir Natura- lisirung. zni- Annäheriin;,'' der lMl;inzen<'i"n;nnente an die i-eaje perspek-
Einleitving". XV
tivische Erscheinung einer Pflanze und ihrer Theile. Ja, es hat in der Antike ohne Zweifel sogar eine Zeit gegeben, wo man in der beregten Annäherung bereits ziemlich weit vorgeschritten war; doch dies war nur eine vorübergehende Episode, woneben und wonach die stilisirten traditionellen Formen dauernd in Geltung geblieben sind. Im All- gemeinen lässt sich sagen, dass die Naturalisirung des Pflanzenorna- ments im Alterthum und fast das ganze Mittelalter hindurch niemals bis zur unmittelbaren Abschreibung der Natur gegangen ist.
Das lehrreichste und wohl auch Avichtigste Beispiel für die Art und Weise, wie man im Alterthum die Naturalisirung von stilisirten Pflanzenmotiven verstanden und durchgeführt hat, liefert das Auf- kommen des Akanthus. Bis zum heutigen Tage gilt Aviderspruchs- los die Anekdote des Vitruv, wonach das Akanthusornament einer un- mittelbaren Nachbildung der Akanthuspflanze seine Entstehung ver- dankte. An dem Unwahrscheinlichen des Vorgangs, dass man plötzlich das erste beste Unkraut zum künstlerischen Motiv erhoben haben sollte, scheint sich bisher Niemand gestossen zu haben. In zusammenhängen- der Betrachtung einer Geschichte der Ornamentik erschien mir ein solcher Vorgang völlig neu, ohne Gleichen und absurd. Und in der That ergiebt die Betrachtung der ältesten Akanthusornamente, dass dieselben im Ausselien gerade die charakteristischen Eigenthümlich- keiten der Akanthuspflanze vermissen lassen. Diese charakteristischen Eigenthümlichkeiten haben sich nachAveislich erst im Laufe der Zeit aus dem ursprünglich Vorhandenen entwickelt: liegt es da nicht auf der Hand, dass man auch die Bezeichnung des Ornaments als Akan- thus erst viel später vorgenommen haben kann, zu einer Zeit, da dieses Ornament in der That dem Aussehen der genannten Pflanze nahe gekommen Avar? Was aber die ältesten Akanthusornamente betrifft, so hofie ich im 3. Kapitel erwiesen zu haben, dass dieselben nichts Anderes sind, als plastische, beziehungsweise plastisch gedachte Pal- metten. Damit erscheint der Akanthus, dieses nachmals weitaus Avichtigste A'on allen Pflanzenornamenten, nicht mehr als Deus ex machina in der Kunstgeschichte, sondern eingereiht in den zusammen- hängenden, normalen EntAA'icklungsgang der antiken Ornamentik.
Der naturalisirenden Tendenz in der abendländischen Kunst, die sich u. a. eben in der Entfaltung des Akanthusornaments unzweideutig
XVI Einleitung'.
ausdrückt, scheint der Orient von Anbeginn, seit er sieh der höheren griechischen Kultur und Kunst gefangen gegeben, widerstrebt zu haben. Die hellenistischen Formen hat er durchgreifend übernommen: an diesem Satze Mird. heute wohl Niemand mehr zweifeln, dem es nicht um ein blosses Justament-Festhalten an liebgewordenen Anschauungen zu thun ist. Dass es Anhänger dieser letzteren trotz der überzeugen- den Sprache der Denkmäler heute noch giebt, ist wohl auch vornehm- lich auf Rechnung der festgewurzelten antihistorischen Tendenz in der Beurtheilung ornamentaler Kunstformen zu setzen. Aber thatsächlieh begegnen uns an orientalischen Kunstwerken aus der römischen Kaiser- zeit vielfach die stilisirtcn Blüthenformen der reifhellenischen und der alexandrinischen Kunst neben den naturalisirenden Bildungen des römischen Westens. Das byzantinische Ornament knüpft theilweise direkt an hellenistische Formen an, die offenbar auf griechischem und kleinasiatischem Boden auch während der römischen Kaiserzeit fort- dauernd in Gebrauch geblieben waren. Wegen der grösseren Eeilie von Zwischengliedern nicht so unmittelbar einleuchtend, aber nicht minder vollgiltig ist dies hinsichtlich der saracenisehen Kunst.
Die derb byzantinischen Elemente in der saracenisehen Ornamentik hat man längst richtig auf ihre Herkunft hin erkannt, ja, man kann sagen, in den vierziger und fünfziger Jahren richtiger als heutzutage, woran eben wiederum die dazwischen gekommene, unselige technisch- materielle Entstehungstheorie mit der Schwärmerei für spontan-autooli- thone Anfänge der unterschiedlichen nationalen Künste Schuld ist. Dagegen blieb die Arabeske allezeit unangetastetes Sondereigenthum des Orients, insbesondere der Araber. Und doch lehrt die Geschichte der Ornamentik im Alterthum, dass der antike Orient das Rankenorna- ment, das ja der Arabeske zu Grunde liegt, nicht gekannt lial und da- her dasselbe erst vom hellenischen AVesten übernommen halten niuss. Auch konnte man längst bei näherem Zusehen in dem dichten Arabesken- geschlinge einzelne mehr hervorstechende .Alotive w.iiirneliiuen, die mit ihren Volutenkelchen und l'.l.itif.-icliei-n liciitlicii (Jen /iisnninimli.iiig mit der alten Palmettenornamentik vcrrathen. Was aber an der Arabeske als scheinbar völlig neu und gegenüber der antiken Auf- fassung des Pflanzenornaments ganz fremdartig erschienen ist, das war die Eigenthümlicldvcit, dass die an den Raid^en sitzenden saracenisehen
Einleitung. XV rr
Blüthenmotive nicht bloss, wie dies in der Xatur und im Allg'omein<'n auch in der abendländischen Ornamentik der Fall ist. als freie Endi- gungen selbständig auslaufen, sondern sehr häufig Aviederum in Ranken übergehen. Dadurch wird der Charakter der Blüthen als solcher unter- drückt, die Bedeutung der Ranken als Stengel verwischt, das Wesen der Arabeske als eines Pflanzenrankenornaments für den Beschauer oft bis zur Unkenntlichkeit verschleiert.
Diese Eigenthümlichkeit nun, die als die wesentliche und charakteristische der Arabeske bezeichnet werden darf, und in welcher die antinaturalistische auf das Abstrakte gerichtete Tendenz aller frühsaracenischen Kunst ihren schärfsten Ausdruck gefunden hat, lässt sich ebenfalls schon in der antiken Rankenornamentik vorgebildet beobachten. Dem Nachweise dieses Sachverhaltes ist nebst den Schlüsse des dritten das vierte Kapitel dieses Buches gewidmet. Ich hole damit zugleich etwas nach, was ich in meinen „Altorientalischen Teppichen" zu geben, hauptsächlich dui'ch Raummangel verhindert war. Dieser Nachtrag erscheint mir um so nothwendiger, als sich her- ausgestellt hat, dass man vielfach die Natürlichkeit des Vorganges, die antike Kunst zum Ausgangspunkte der frühmittelalterlichen auch auf orientalischem Boden zu machen, nicht recht einsehen wollte: so tief- gewurzelt ist in den modernen Geistern die antihistorische Anschauung, dass die Kunst da und dort ihren spontanen, autochthonen Ursprung genommen haben müsse, höchstens der Occident der lernende, der Orient aber immer nur der spendende Theil gewesen sein könne. Nicht bloss den Dichtern, auch den Kunstschriftstellern wurde der Orient zum Lande der Märchen und Zauberwerke : in den fernen Orient verlegen sie mit Vorliebe die Erfindung aller erdenklichen „Techniken", namentlich aber der flächenverzierenden. Und schien einmal eine „Technik" als im Orient autochthon erwiesen, so musste es dann auch die mittels derselben hervorgebrachte Kunst gewesen sein, die doch nach der herrschenden Anschauung der führenden „Technik" überall erst nachgehinkt wäre.
Mehr Voraussetzungen für eine historische Betrachtung des Pflanzenrankenornaments sind innerhalb des abendländischen Mittel- alters gegeben. Nicht als ob dieses Gebiet von den Einwirkungen des Kunstmaterialismus völlig verschont geblieben wäre: vielmehr lassen
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Einlc'ituno-.
sich dieselben auch dort auf Schritt und Tritt nachweisen, und ihnen ist es wohl zuzuschreiben, dass die Beurtheilung- der Verhältnisse in der Frühzeit, in der sogen. Yölkerwanderungs-, aber auch noch in der Karolingischen und Ottonischen Periode, trotz verhältnissmässig reich- lichen Materials eine vielfach unklare, widerspruchsvolle, der Einheit- lichkeit entloehrende geblieben ist. Aber ich meine, dass man wenig- stens nicht auf so eing-ewurzelte Vorurtheile und blinden Widerstand stossen würde, wenn man den Versuch machte, das mittelalterlich- abendländische Pflanzenornament in seiiwr historiscluni Entwicklung vom Ausgange der klassischen Antike bis zum Aufkunnnen der Re- naissance darzustellen. Da nun Zeit und Kaum vorläufig nicht ge- gestatten Alles zu eriu'tern, Avas auf die historische Entwicklung des Pflanzenrankenornaments Bezug hat, so habe ich mich darauf be- schränkt, Ji'ue Partien daraus zur S])rachc zu bringen, die am meisten «•ini-r fundamentalen Klärung bedürftig erscheinen, so dass die bezüg- lichen Klarstellungfu in der That als Grundlegungen zu einer darauf weiter zu bauenden (reschichte der Ornamentik gelten dürfen. Es be- ti-effen diese Partien, wie wir gesehen haben, das PHanzen- rankenornanient im Ali< rtlinni mul dessen treueste Fortsetzung im kon- servativen Orient, die Arabeske. Auch in der mittelalterlichen Kunst- geschichtsliteratur begegnen wir übrigens in den Peschreibungen von Kunstwerken so überaus häufig der allgemeinen Bezeichnung: ..ein Ornament", worauf dann eine nähere Besclu'eihung l'olgt, die ganz überflüssig wäre, wenn man das betreff'ende ( )rnameni in der Oesammt- entwicklungsgeschichte bereits unterge])i-aclit hätte. Dass diese Unter- bringung, wenigstens soweit das antike und sai'acenische l'Hanzen- rankenornament in Betracht k^nnut, nichts weuigci' .-ils schwer ist, zu zeigen, — für eine solche systematische Unterbringung eine historische ..Orundleguug" zu schaffen: dies ist der Hauptzweck, den ich mir mit dem y>. und 4. Kapitel dieses BucIk^s gestellt lial)e.
Wenn es oberste Aufgabe .illei- historischen l'^orschnng und so- mit auc-h dei- kunsthistorischen ist, kritisch /n sondern, so erscheint die Grundtendenz dieses Buches n.ich ileiii (io.igien \ielniehr nach der entgegengesetzten Seite gerii-htei. I'.isher (ieii-enntes und (ie- schiedenes soll untereinander verlmuden. un<l iintei' einheillichem (ie- sicht.spunkte lietr.ichtet werden. in der That liegt die näcliste .\ul'-
Einleituiio'.
XIX
g'abe auf dem Gebiete der Ornamentg-escbichte darin, den in tausend Stücke zersclmittenen Faden wieder zusammenzuknüpfen.
Der Inbalt dieses Bucbes rübrt an allzu tiefgewurzelte und lieb- gewordene Anscbauung-en, als dass icli niebt auf vielfacben Wider- sprucb g'efasst sein müsste. Ich bin seiner gewärtig; docb weiss ich micb auch bereits mit so Manchem eines Sinnes. Andere mögen mir im Stillen Recht geben, obgleich sie vielleicht nicht den Beruf in sich fühlen, sich laut dazu zu bekennen. Die Uebrigen aber, die sich nicht überzeugen lassen wollen, wenigstens dazu gebracht zu haben, dass sie die Xothwendigkeit einsehen, für ihre vorgefasste Lieblingsmeinung stärkere und bessere Gründe als die bisherigen beiscbaffen zu müssen, erschien mir schon eine erstrebenswerthe That, indem selbst ein solcher bedingter Erfolg dazu beizutragen vermöchte, Klarheit in die uns in diesem Buche beschäftigenden fundamentalen Fragen zu bringen: ist es doch menschliche Erbsünde, nur durch Irrthum zur Wahrheit zu gelangen.
I.
Der geometrische Stil.
Alle Kunst und somit auch die dekorative steht in unauflöslieliem Zusammenhange mit der Natur. Jedem Gebilde der Kunst liegt ein Gebilde der Natur zu Grunde, sei es unverändert in dem Zustiinde, in dem es die Natur geschaffen hat, sei es in einer Umbildung, die der Mensch, sich zu Nutz oder Freude, damit vorgenommen hat.
Dieser stets vorhandene Zusammenhang tritt aber an verschie- denen Kunstgebilden mit verschiedener Deutlichkeit zu Tage. Am un- verkennbarsten offenbart er sich an den Werken der Skulptur: die HervorbringTingen der Natur erscheinen hier eben nachgeahmt mit allen ihren drei körperlichen Dimensionen. Die Versuchung zu einer stärkeren Abweichung von den Vorbildern der Natur und die Gefahr einer Verdunkelung des obwaltenden Zusammenhanges mit diesen letzteren war erst recht nahegerückt von dem Augenblicke an, da man im Kunstschaffen die Tiefendimension und damit zugleich die volle körperliche Erscheinung preisgab, was bei jenen Künsten der Fall ist, die in der Fläche darstellen.
Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Punkte. Wir haben eben die beiden grossen Klassen festgestellt, in die sich die dekora- tiven Künste scheiden: die plastischen und die in der Fläche darstel- lenden. Es lassen sich aber aus dem Gesagten auch schon Schlüsse auf das genetische Verhältniss ziehen, das zwischen den beiden ge- nannten Kunstgebieten obwaltet. Wenn wir vorerst die Denkmäler beiseite lassen und zunächst auf rein deductivem Wege uns die Frage zu beantworten suchen, welcher von beiden Klassen von Künsten, den plastischen oder den flächenbildenden, der Vorantritt in der Entwick- lung zuerkannt werden müsse, so av erden wir schon a priori — trotz der weitverbreiteten gegentheiligen ^leinung — das plastische Kunst-
Riegl, Stilfragen. 1
2 Der g-eoiiietrisclie Stil.
seluifteu als das ältere, primitivere, das in der Fläclie bildende als das Jüngere, raftinirtere bezeieliuen dürfen. EtAva ein Tliier in fencliteni Thon schlecht und recht nachziunodelliren, dazu bedurfte es, nachdem einmal der Xachahmung-strieb im 31enschen vorhanden war, keiner höheren Bethätiguiig- des menschlichen Witzes, da das Vorluld — das lebende Thier ^ in der Xatur fertig" vorlag. Als es sich aber zum ersten Male darum handelte , dasselbe Thier auf eine gegebene Fläche zu zeichnen, zu ritzen, zu malen, bedurfte es einer geradezu schöpferischen That. Denn nicht der vorbildlich vorhandene Köri)er ■wurde in diesem Falle nachgebildet, sondern die Silhouette, die Um- risslinie, die in AYirklichkeit nicht existirt und vom Menschen erst frei erfunden -werden nmsste'). Von diesem Augenblicke an gewann die Kunst erst recht ilire unendliche Darstellungsfähigkeit; indem man die Körperlichkeit preisgab und sich mit dem Schein begnügte, that man den wesentlichsten Schritt, die l'hantasie von dem Zwange der strengen Beobachtung der realen Naturformen zu befreien und sie zu einer freieren Behandlung und Condunirung dieser Xaturformen hin- zuleiten.
Mag nun ein dekoratives Kunstgebilde von emancipirter Form- gebung noch so Avunderlich erscheinen, in den einzelnen Theilen l)richt doch immer das reale, aus der Xatnr entlehnte \'<abihl hindurch. Dies gilt sowohl von den in der Fläche dargestellten, als von den i>lasti- schen Kunstformen. Die Schlangenfüsse des Giganten z. B. sind niclit minder von X'aturvorbildern abhängig, als sein menschlicher Ober- körper, wenngleich das Ganze, der Gigant, in der realen "Welt nicht existirt. Ebenso gehen die völlig in linearem Schema gehaltenen drei- spaltigen Blüthen, etwa auf kyprischen Vasen, ganz bestinnnt auf das Xaturvorbild der Lotusblüthe zurück, nuichte nun der Zusammenhang mit jener bestimmten Species der egyptischen Flora den kyitrischen Töpfern bewusst gewesen sein oder nicht.
Also die Xatur blieb i'iir die Kunstlnmien .lucli dann nueli \or- bildlieli, als dieselben die Tiefendiniension jjreisgegehen imd die in dei- AVii'klichkeit nicht existirendc umgi'enzende Linie zum Eh iiienle ihrer l);ir.-tellimg gemaelit li.it!«ii. In- rnn'isslinieii (l,irge>tellte Tliier-
', Von Hottentotten und Australnegcin wissen die Reisenden vielfacli zu berichten, dass sie ihr eig'enes Bild in Zeiclnnuig- oder PlK)tog-rai)liie nicht erkennen: sie vermögen eben die Ding'e nur kör))erlicli, aber nicht in die Fläche g-ebannt, ohne Tiefendiincnsion, aufzufassen — ein Beweis, dass für letzteres bereits eine vorgeschrittcnf Knltni stufe vorjius^^csctzt werden nniss.
Der geometrische Stil. 3
lig'uren bleiben nichtsdestoweuig'er Tlnertigurcii , wenn ihnen aucli die Plasticität der körperlichen Erscheinung fehlt. Man ging- aber endlich auch daran, aus der Linie selbst eine Kunstform zu gestalten, ohne dabei ein unmittelbares fertiges Vorbild aus der Xatur im Auge zu haben. Diese Gestaltungen geschahen unter Beobachtung der fun- damentalen Kunstgesetze der Symmetrie und des Rhythmus: ein regel- loses Gekritzel ist eben keine Kunstform. So bildete man Dreieck, Quadrat, Raute, Zickzack u. s. w. aus der geraden, den Kreis, die Wellenlinie, die Spirale aus der gekrümmten Linie. Es sind dies die Figuren, die wir aus der Planimetrie kennen; in der Kunstgeschichte pflegt man sie als geometrische zu bezeichnen. Der Kunststil, der sich auf der ausschliesslichen oder doch überwiegenden VerAvendung dieser Gebilde aufliaut, heisst somit der geometrische Stil.
Wenn nun auch den Gebilden des geometrischen Stils anschei- nend keine realen Wesenheiten zu Grunde liegen, so stellte man sich damit dennoch nicht ausserhalb der Xatur. Dieselben Gesetze von Symmetrie und Rhythmus sind es doch, nach denen die Natur in der Bildung ihrer Wesen verfährt (Mensch, Thier. Pflanze, Krystall), und es bedarf keineswegs tiefere)- Einsicht, um zu bemerken, Avie die planimetrischen Grundformen und Configurationen den Xaturwesen latent anhaften. Der eingangs aufgestellte Satz a^ou den engen Be- ziehungen aller Kunstformen zu den körperlichen Xaturerscheinungen besteht also auch für die Formen des geometrischen Stiles zu recht. Die geometrischen Kunstformen A^erhalten sich eben zu den übrigen Kunstformen genau so, Avie die Gesetze der Mathematik zu den leben- digen Xaturgesetzen. Ebensowenig, wie im sittlichen A' erhalten der Menschen, scheint es im Gange der Xaturkräfte eine absolute Voll- kommenheit zu geben: das AbAveichen von den abstrakten Gesetzen schafft da und dort die Geschichte, fesselt da und dort das Interesse, unterlu'icht da und dort die Langeweile des ewigen Einerlei. Der nach den obersten Gesetzen der Symmetrie und des Rhythmus streng aufgebaute geometrische Stil ist, vom Standpunkte der Gesetzmässig- keit betrachtet, der vollkommenste; in unserer Werthschätzung steht er aber am niedrigsten, und auch die EntAvicklungsgeschichte der Künste, soAA^eit Avir dieselbe bisher kennen, lehrt, dass dieser Stil den Völkern in der Regel zu einer Zeit eigen gcAvesen ist, da sie noch auf einer verhältnissmässig niedrigen Kulturstufe verharrten.
Trotz dieser geringen ästhetischen Würdigung hat doch der geo- metrische Stil im Verlaufe der letztverflossenen ZAvei Decennien eine
1*
4 Der geometrisclie Stil.
sehr weitgehende Berücksiehtigiuig erfahren. Einmal von Seiten der archäologischen Forschung. Die ältesten Xekropolen von Cypern, die vorhomerischen Schichten von Hissarlik, die Terramaren der Poebene, die Gräber des prähistorischen Xord- uu<l Mitteleuropa u. a. förderten den geometrischen Stil an Gegenständen zu Tage, deren Entstehung nach sehr gewichtigen Anzeichen in verhältnissmässig frühe Zeiten zu- rückgehen dürfte. Dazu gesellten sich die Beobachtungen der ethno- logischen Forscher, denen die charakteristischen Linienniotive des geometrischen Stils vieltach als \'erzierungen auf Geräthen moderner Naturvölker begegneten. Da wir im Sinne der modernen Naturwissen- schaft uns für berechtigt halten, die Naturvölker für rudimentäre Überbleibsel des Menschengeschlechtes aus früheren längstveräossenen Kulturperioden anzusehen, so erscheint, in diesem Lichte betrachtet, die geometrisehe Ornamentik heutiger Naturvölker ebenfalls als eine historisch längst überwundene Phase der Entwicklung der dekorativen Künste, und darum von hoher historischer Bedeutsamkeit.
Da nun die Avenigen grundlegenden Motive des geometrischen Stils sich fast bei allen jenen prähistorischen und Naturvölkern in der gleichen Weise, wt-nngleich in verschiedenen Combinationen und unter Avechselnder Bevorzugung einzelner Motive, gefunden halben, in Europa wie in Asien, in Afrika Avie in Amerika und in Polynesien, so zog man hieraus den Schluss, dass der geometrische Stil nicht auf einem Punkte der Erdoberfläche erfunden und von diesem Punkte aus über alle Welttheile hin verbreitet worden sein mochte, sondern dass er, avo nicht bei allen, so doch bei den meisten Völkern, bei denen Avir seiner AnAvendung begegnen, spontan entstanden AA^äre. Als höchst naiA- und uuAvissend würde derjenige gelten, der zAA^ei Töpfe verschiedener Her- kunft, die beide das gleiche Zickzackmuster aufweisen, nicht ctAva in unmittelbaren Zusammenhang, nein, bloss in eine ganz entfernte, durch eine längere Reihe A'on ZAvischengliedern vermittelte Verwandtschaft unter einander bringen Avollte. Der geometrische Stil Aväre überall auf der Erdoberfläche spontan entsiandcn: dies ist der erste autoritative Lehrsatz, der heutzutage von diesem Stile gilt.
Stand einmal diese Ülierzeugung fest, so ergab sich daraus sofort der Aveitere Schluss, dass der Anstoss zur Erfindung und Entfaltung dieses Stils AA'ohl überall der gleiche gcAvesen sein niusstc. Der rastlos nach Causalzusammenhängen forschende Sinn unseres naturwissenschaftlichen Zeitalters Avar alsbald bemüht, dieses EtAvas zu ergründen, das den geo- metrischen Stil an so vielen Piiukleu spontan li.it in's Lrl.cn treten
Der g'eometrische Stil. 5
lassen. Und zwar musste es etwas Greifbares, Materielles gewesen sein; der blosse Hinweis auf unfassbare iDsyeliisclie Vorgänge hätte nicht als Lösung gegolten. In der freien Natur durfte man das anstossgebende Etwas nicht suchen; die abstrakten linearen Gebilde des geometrischen Stils liegen doch in der Natur nicht offen zu Tage, und um sie aus ihrem latenten Dasein in der Natur zu einem selbständigen in der Kunst zu befreien, dazu hätte es eines bewussten seelischen Vorgangs bedurft, dessen Dazwischenkunft man doch um jeden Preis vermeiden wollte. Es blieben also von greifbaren Dingen bloss die Werke von Menschenhand übrig. Da es sich hiebei um Vorgänge in den primi- tivsten Werdezeiten des Menschengeschlechts handelte, konnten nur allerprimitivste Werke von Menschenhand, allernoth wendigste Produkte eines elementaren Bedürfnisstriebes in Frage kommen. Als einen solchen Trieb glaubte man denjenigen nach Schutz des Leibes ansehen zu dürfen. Gegenüber der feindlichen Aussenwelt mochte sich der Mensch früh- zeitig durch den geflochtenen Zaun abgesperrt haben; Schutz vor den Unbilden der Witterung mochte er nicht minder frühzeitig in Geweben gesucht haben.
Nun sind aber gerade Flechterei und Weberei diejenigen tech- nischen Künste, die durch die bei ihnen obwaltenden technischen Pro- ceduren ganz besonders auf die Hervorbringung linearer Ornamente beschränkt erscheinen. Wie, wenn im Kreuzgeflechte des Ruthenzauns und des grob gewebten Gewandes die linearen Motive des geometrischen Stils zuerst dem Menschen vor Augen getreten Avären? Eine glückliche Combination von farbigen Halmen hätte dann etwa eine Zickzacklinie zu Wege gebracht. Wohlgefällig mochte der Mensch die Symmetrie der Schrägbalken und ihre rhythmische Wiederkehr betrachtet haben. Freilich, wenn man die Frage stellen wollte, woher wohl dieses Wohl- gefallen stammen, wodurch es im primitiven Menschen erweckt worden sein mochte, war der menschliche Witz am Ende angelangt. Aber man glaubte sich schon mit dem soAveit Gewonnenen begnügen zu dürfen. Auf unbewusste, nicht spekulative Weise, bloss von der Nothdurft eines rein praktischen Zweckes geleitet, hatte die Menschenhand — so rai- sonnirte man — die ersten geometrischen Verzierungen zu Wege ge- bracht. Sie waren einmal da, und der Menscli konnte sie nachahmen, gleichgiltig aus welchem Grunde. Formte er einen Becher aus ange- feuchtetem Thon, so konnte er die Zickzacklinie hineingraben; am Thonbecher war sie zwar nicht durch die Nothdurft des Zweckes ge- boten, wie die Fadenkreuzungen bei den textilen Techniken, aber sie
6 Der geometrische Stil.
g-etiel ihm an diesen Ictzterini nnd er wollte sie auch dort sehen, wo sie nicht spontan entstand. Das geometrische Motiv des Zickzack, ur- sprünglich das zufällige Produkt eines rein technischen Vorgangs, war hiemit zum Ornament, zum Kunstmotiv erhoben. Die einfachsten und wichtigsten Kunstmotive des geometrischen Stils wären ursprünglich durch die textilen Techniken der Flechterei und Weberei hervorgebracht: dies ist der zweite souveräne Lehr- satz, der heutzutage vom geometrischen Stile gilt.
^lit dem zuerst entwickelten Lehrsatz von der spontanen unab- hängigen Entstehung dieses Stiles an verschiedenen Punkten der Erd- oberfläche berührt sich dieser zweite Lehrsatz insofern, als das elemen- tare Bedürfniss nach Schutz des Leibes sich auf verschiedenen Punkten der Erdoberfläche selbständig geltend gemacht haben dürfte und daher auch an verschiedenen Punkten eine spontane Erfindung (h'r Zaun- flecliterei und Gewandweberei veranlasst haben konnte. Ein Lehr.satz stützte auf solche Weise den anderen; in ihrer Harmonie gal:)en sie zusammen ein um so überzeugenderes Bild von der I-^ntstehung des geometrischen Stils und zugleich des frühesten primitivsten Kunst- schaflTens überhaupt.
Gottfried Sem per war es, der zuerst die linearen Ornamente des geometrischen Stils auf die textilen Techniken der Flechterei und Weberei zurückgeführt hat. Dieser Schluss ergab sielt ihm aber kcines- Avegs selbständig, etwa wie wir ihn im A^orstehenden entwickelt haben, sondern im Zusammenhange mit jenem Grundgedanken, dessen Be- gründung und konsequenter Durchführung sein Stil in erster Linie ge- widmet war: der Theorie vom Bekleidungswesen als Ursprung aller monumentalen Baukunst. Auf diesem Wege gelangte er zur Zurück- führung aller Flächenverzierung auf die Begriffe von bekleidender Decke und einfassendem, abschliessendem Band, mit welchen Px'gritlen ein textiler Gharakter schon sprachlich verknüpft erscheint. Es geht nun aus zahlreichen Stellen im Siil hervor, dass Semper sich diese Vor- bildlichkeit von Decke und Band ursprünglich u\\(\ iilierwiegend iiiclit so sehr in stofflich -materiellem, als in ideellem Sinne gedacht hat, wie denn auch Semper gewiss der Letzte gewesen wäre, der den frei schöpferischen Kunstgedanken gegenüber dem sinnlich-materiellen \arli- ahmungstriebe nicht gebühren<l berücksichtigt hätte; die Ausliilduiig dieser seiner Theorie in grob materialistischein Sinne ist erst durch seine zahllosen Nachfolger erfolgt. Aber es lag nnn einmal nahe, die Dinge auch in materiellen Zusannnenliaiig /n lu-ingen. nnd an <'iner
Der geometrische Stil. 7
Stelle-) wenigstens lässt sich Semper über die Entstehung des Musters aus der Flechterei und Weberei in einer so bestimmten Weise vernehmen, dass hinsichtlich seiner Meinung über den technisch-materiellen Ur- sprung der geometrischen Ornamentik schliesslich doch kein Zweifel übrig bleibt.
Semper's Theorie fand in den Kreisen der Kunstforschung bereit- willigste Aufnahme. Schon der historisch-naturwissenschaftliche Sinn unseres Zeitalters, der lur alle Erscheinungen die Causalzusammenlxänge nach rückwärts zu ergründen sucht, musste sich l^efriedigt fühlen von einer Hypothese, die für ein so eminent geistiges Gebiet wie es das- jenige des Kunstschaffens ist, eine durch ihre Natürlichkeit und ver- blüffende Einfachheit so bestechende Entstehungsursache anzugeben wusste. Besonders eifrig wurde sie von der klassischen Archäologie aufgegriffen, die sich el)en in die Lage versetzt fand, sich mit den auf griechischem Boden gefundenen vorklassischen Kunstschöpfungen aus- einandersetzen zu müssen. Entscheidend hiefür war das Vorgehen Conze's, der vor 20 Jahren Semper's Hypothese für die sogen. Vasen des geometrischen Stils verwerthete: Conze ist auch bis zum heutigen Tage der vornehmste Vertreter der vorhin entAvickelten beiden Lehr- sätze vom geometrischen Stil geblieben. So gross erschien diese Er- rungenschaft, dass man sich vorerst mit einer allgemeinen Fassung der Lehrsätze begnügte, eine nähere Untersuchung des Processes, eine Er- örterung der Fragen, welche von den verschiedenen textilen Teckniken hiebei in Frage käme, welche die ihr entsprechendsten geometrischen Motive wären u. s. w., für überflüssig hielt. Erst in neuester Zeit wurde der Versuch gemacht, auf diese Fragen etwas näher einzugehen, worauf noch zurückzukommen sein wird; die Lehrsätze von der spontanen Entstehung des geometrischen Stils auf verschiedenen Punkten aus einer textilen Technik wurden aber auch von dieser Seite nicht bloss nicht in Zweifel gestellt, sondern vielmehr erst recht zu Ijeweisen gesucht.
Wir wollen nun die heute allgemein geltenden Anschauungen vom Ursprung des geometrischen Stils einer Prüfung auf ihre Stichhaltigkeit unterziehen. Was zunächst den ersten der erwähnten beiden Lehrsätze betrifft, der die Spontaneität der Entstehung des geometrischen Stils an allen oder doch an den meisten jener Punkte, wo wir ihn sei es noch heute antreffen, sei es seinen Spuren aus früheren Jahr-
-) Stil I. 213, worauf noch zurückzukommen sein wird.
8 Der geometrische Stil.
tciusenden begegnen, behauptet, so müssen wir uns damit begnügen, darzuthun, dass in dieser Frage eine zuverlässige Entscheidung heut- zutage nicht getroffen werden kann, und daher die autoritäre, Allge- meingiltigkeit beanspruchende Fassung, in welcher der besagte Lehrsatz heute vorgetragen Avird, zumindest eine verfrühte genannt werden rauss. "Wie lineare Motive bei einem Volke spontan in die Ornamentik eingeführt Averdeü, lässt sich heutzutage wohl nirgends mehr beobachten. Die spontane Entstehung an mehreren verschiedenen Punkten lässt sich somit nicht mehr unmittelbar beweisen, allerdings auch nicht das Gegentheil. Das Material, auf Grund dessen man ein zuverlässiges rrtlieil schöpfen könnte, ist einfach nicht mehr vorhanden, und es liegt daher dermalen auch kein genügender Grund vor, um die Verbreitung des geometrischen Stils von einem einzigen Punkte aus zu behaupten. Es muss sogar zugestanden werden , dass es Völkerschaften mit sehr respektablem omamentalem Kunstschaffen giebt, deren nachweis- liche, des bei ihnen beobachteten gänzlichen Mangels an Metall und Metallwaaren halber unabsehbar weit zurückreichende Isolirtheit eine Abhängigkeit von anderen Kunstvölkern geradezu auszuschliessen scheint ; dem interessantesten dieser Völker, den Maori auf Neuseeland, werden auch Avir späterhin mehrfach Beachtung zu schenken Veran- lassimg finden.
So viel wird man aber immerhin sagen dürfen, dass die Ergebnisse der letztjährigen Forschungen der Annahme allzuvieler selbständiger Ent- stehungsherde keineswegs günstig scheinen. Die Zeiten, in welche die Ijezüglichen Funde in den Mittelmeerländern zurückgehen, rücken uns immer näher und entfernen sich in dem gleichen Älaasse vom suitponirten Urzustände, und das Gleiche gilt von den Überbleibseln der sogen, nord- und mitteleuropäischen Bronzezeit. Ferner wird es immer klarer, dass die friedliclien Beziehungen selbst sehr entfernter Völker zu einander, ihr Verkehr zur See und zu Lande, wenn auch durch zahlreiche Zwisclien- gliedei- vermittelt, in überaus frühe Zeiten zurückgehen; an Gelegen- heiten, Avelche den stets wachen Nachahmungstrieb der Menschen reizen mocliten, liat es somit seit unvordenklichen Zeiten nicht gefehlt. Min- destens zwisclien den das Mittelmeerbecken umwohnenden Völkern werden vielfache causale Ziisammenhänge auch in Betreff des geome- trisclien Stils nicht abzuweisen sein. Und was die anscheinend primi- tive geometrische Ornamentik bei den modernen Naturvölkern betrifft, so erscheint d;i dop|ielte Vorsicht gel»oten zu einer Zeit, da selbst die chinesische ,M;iii<r liedcnkliclie Risse zeiüt, wie insbesondere die Nach-
Der geometrische Stil. 9
weise F. Hirth's von den intensiven Bsziehnngen Chinas zum römischen Kaiserreich ergeben haben 2).
Aus alledem geht wenigstens das Eine hervor, dass die bedingungs- lose Proscription der Wenigen, die es gelegentlich wagen, historische Zusammenhänge in gewissen Varianten des geometrischen Stils zu er- blicken, mindestens ungerechtfertigt ist. Die absolute Primitivität des geometrischen Stils auf allen Punkten der Erdoberfläche und bei allen Völkern, bei denen Avir ihn antreffen, ist aber schlechtweg ab- zuweisen. Das Dipylon z. B. ist gewiss ein geometrischer Stil, aber keineswegs ein primitiver, vielmehr ein raffinirter. Die Völker sind zu ungleich in ihrer Begabung für das Kunstschaffen, als dass nicht welche einen Vorsprung vor den übrigen gehabt hätten; dann Avar aber wieder der Xachahmungstrieb allzu mächtig, als dass die zurückgebliebenen nicht den vorgeschrittenen mit Entlehnungen gefolgt wären. Damit pflegt übrigens eine besonnene archäologische Forschung seit Langem zu rechnen.
Kurz gefasst lässt sich somit über die geographische Seite der Frage nach der Entstehung des geometrischen Stils ungefähr Folgendes sagen. Es liegt keiu zwingender Grund vor zur Annahme, dass die geometrischen Kunstformen von einem einzigen Schöpfungscentrum aus Verbreitung gefunden haben: die Möglichkeit verschiedener selbstän- diger Entstehungspunkte bleibt vielmehr vorläufig unbestritten. Auf dem Gebiete der Künste bei den Mittelmeervölkem dürfte weitgehende wechselseitige Beeinflussung anzunehmen sein, was im Besonderen zu begründen hier überflüssig ist, da es in einzelnen Punkten bereits auch von archäologischer Seite nachgewiesen und anerkannt erscheint. Was aber die geometrische Ornamentik bei den Naturvölkern betrifft, so ist das bezügliche Material dermalen noch weit davon entfernt, um die Frage als spruchreif erscheinen zu lassen.
Wir gehen nun an die Erörterung des zAveiten Lehrsatzes, der vom geometi'ischen Stil gilt: des Satzes vom Ursprung der charak- teristischen Motive dieses Stils aus den textilen Techniken der Flechterei und Weberei. Dieser Satz galt seit Semper und Conze als so unfehlbar, dass nicht bloss von keiner Seite ein auch nui' be- scheidener Zweifel daran geäussert wurde, sondern auch bis auf die
■^) F. Hirth, China and the Roman Orient. — Bezeichnend ist es mit Bezug- auf letzteren Umstand, dass trotz vielfacher zu Tage liegenden Analogien es bisher noch Niemand gewagt hat, die entsprechenden Schlüsse auf kunst- historischem Gebiete zu ziehen.
]() Der geometrisehe Stil.
jüngste Zeit ein näheres Eingehen auf den ganzen Proeess. der von den Textiltechniken zu den geometrischen Verzierungen auf den früh- griechischen Vasen geführt haben mochte , für übertiüssig gehalten wurde. Angesichts der streng wissenschaftlichen Methode, mit welcher die klassische Archäologie unserer Tage arbeitet, ist die Autoritätsgläu- bigkeit gegenüber dem in Rede stehenden Lehrsatze nur zu verstehen, Avenn man den allgemeinen Zug der Zeit, die ül)ermächtige Strömung der Geister in den letztverflossenen dreissig Jahren in Betr;ielir zieht. Es ist die durch Lamark und Goethe angebalmte, durch Darwin zum reifen Ausdruck gelangte Art der "Weltanschauung nach stoftlich-natur- wissenschaftlichen Gesichtspunkten, die auch auf dem Gebiete der Kunst- forschung schwerwiegende Folgen nach sich gezogen hat. Parallel mit der Darlegung der EntAvicklung der Arten unter rein stoft'lichen Fort- bildungsmotiven war man bestrebt, auch für die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts ursprünglich wesentlicli nmtcricHc IIel)el aus- tindig zu machen. Die Kunst als augenscheinlich höhere Potenz einer geistigen Entwicklung konnte ^ so meinte man ■ — nicht von Anbeginn vorhanden gewesen sein. Zuerst Aväre die auf Erreichung rein praktischer Zwecke gerichtete Technik da gewesen, aus der sich erst mit steigender Entwicklung der Kultur die Kunst entfaltet hätte. Zu den ältesten Techniken zählte man dit- Flechterei und Weberei, zu ilen ältesten Verziernngs- oder Kunstformen die geradlinigen geometrisclien Figuren. Da nun die geradlinigen geometrischen Figuren sich für die ^Musterung einfacher Geflechte und Gewebe aus tcchnisclien Beciuendichkeitsgründen ganz besonders eignen, lag es sozusagen in der Luft, beide Erschei- nungen in causalen Zusammenhang unter einnnder zu bringen und zu erklären: die geradlinigen geometrischen l-'ignreii sind urs]iriinglieli nicht auf dem Wege künstlerischer Ertiiidimg. somleni (lin\-h die Teclinik ;nif dem Wege einer generatio sp(iiit;nie;t iier\'()rgel>raeht.
Dies(' gei-adlinigen g(.'ometrisclien Ornamente sind ahei" nieiit die einzigen auf den ältesten vor- und früligrieehischen Vasen: es konnnen liiezu aucii Urnmndinige Gebilde: ^Velleiilinie. Kreis. Spii-.ile u. s. w., für deren Entstehung die Texiili'cliiiil<eii doch iiielii sn iilierzcugend in's Feld geführt werden konnten. \\'\f li'ii' die ger;iillinigi'ii ( )rn.iMienle. Dafür musste nun eine Anzahl .■inilerwciiiger Techniken herli.illen . J;i man k.'inn sagen, dass es in den letzten zw.nizig .I.ihi'i'n. und /.wiw in steig(;iidem Maasse, ein fnndannntales inethndisches Gesetz der klassi- schen Archäologie gewesen ist. für Jedes Motiv, das man von einem gewissen Punkte ans nielii mehi- im Wege lelmweiser Febern.ilmie n.icli
Der g'eometrisclie Stil. W
rückwärts vcrfolg-eii konnte, die Technik ausfindig- zu niaelien, die sozusagen spontan, mit Ansschluss bewusst künstlerischer Erfindung-, auf die Schaffung des betreöendeu Motives geführt haben mochte. Es ist die Theorie von der technisch-materiellen Entstehung- der künstlerischen Urformen, die zur schrankenlosen Geltung in der Archäologie erhoben wurde und innerhalb Avelcher die Theorie von der Entstehung- der geradlinigen geometrischen Ornamente aus den textilen Techniken nur eine Unterabtheilung bildet , so Avie die geradlinigen geometrischen Ornamente selbst nur einen Bruchtheil von sämmtlichen nachAveisbaren primitiven Ornamenten. Mit einer Sicherheit, als Avenn sie persönlich dabeigcAv^esen Avären und Material und Werkzeug des kunsterAveckenden Urmenschen gesehen hätten, wussten die Archäologen die textilen, die metallurgischen, die stereotomischen u. s. aa-. Techniken für die einzelnen ZiermotiA^e auf den ältesten Vasen anzugeben. Eine Unsumme A^on Arbeit Avurde an diese Versuche verscliAvendet, die Aer- schiedensten Combinationen versucht , die verschiedensten Techniken für ein und dasselbe Motiv ins Feld geführt, Avie sich dies bei der Natur der Sache a^ou selbst A'ersteht. Und gleichAA'ie der Deutsche Häckel Darwin's Theorie am konsequentesten und autoritatiA^sten aus- gebildet hat, so Avaren es auch unter den Archäologen wiederum die Deutschen, die hierin am entschiedensten a^ orangeschritten sind. Wie weit sie hiebei über die Anschauung des eigentlichen Vaters dieser Theorie, Gottfried Semper's, hinausgegangen sind, möge eine Stelle aus dessen Stil IL 87 lehren, die ich im Wortlaute hieher setze:
Die Regel, dass die dekorative Ausstattung des Gefässes dem bei seiner Ausführung anzuAvendenden Stoffe und der Art seiner Bearbeitung entsprechen soll, „führt auf schwer zu lösende Zweifel über den tech- nischen Ursprung vieler typisch gCAvordenen dekorativen Formen, über die Frage, in Avelchem Stoffe sie zuerst dargestellt wurden, Avegen der frühen Wechselbeziehungen und Einflüsse Avelche die Stoffe auf diesem Gebiete, den Stil eines jeden unter ihnen modificirend, gegenseitig aus- übten. So bleibt es dahingestellt, ob die Zonen A^on Zickzackorna- menten, Wellen und Schnörkeln, die theils gemalt theils vertieft auf den Oberflächen der ältesten Thongefässe fast überall gleichmässig vor- kommen, ob sie die Vorbilder oder die Abbilder der gleichen flachver- tieften Verzierungen auf ältesten Bronzegeräthen und metallenen Waflfen- stücken sind, oder ob sie keinem a^ou beiden Stoffen ursprünglich an- gehören. . . . Erst mit vorgerückter Kunst beginnt die bcAVusst- volle Unterscheidung und künstlerische VerAverthung der
1'2 Dev g-eometrisclie Stil.
Schranken und Vortheile, die die verschiedenen der Ausführung" sich darbietenden Stoffe für formales Schaffen mit sich führen und ge- statten."
So vorsichtig drückte sich der Autor aus, der, Künstler und Ge- lehrter zugleich, in höherem Maasse als irgend Einer seines Jahrhunderts die technischen. Proceduren des Kunstschaffens in ihrer Gesammtheit und ihren Wechselbeziehungen überblickte und umfasste. Es geht auch aus seinen obcitirten Worten hervor, dass er sich die formenbildende Thätigkeit der „Technik" im Wesentlichen erst in vorgerücktere Zeiten der Kunstentwicklung verlegt denkt, und nicht in die ersten Anfänge des Kunstschaffens überhaupt. Und dies ist auch meine Überzeugung. Nichts liegt mir ferner als die Bedeutung der technischen Proceduren für die Um- und Fortbildung gewisser Ornamentmotive zu läugnen. Uns in dieser Beziehung die Augen geöffnet zu haben, wird immer ein unvergängliches Verdienst Gottfried Semper's bleiben. Wenn dieser Punkt im Folgenden nicht besonders verfolgt oder öfter betont sein wird, so mag man dies aus dem Umstände erklären, dass ich mir eben die besondere Aufgabe gestellt habe, die von der Teclmik unverdienter- maassen in Anspruch genommene schöpferische Bedeutsamkeit auf anderem Gebiete, auf demjenigen der ältesten erstgeschaffenen Kunst- formen, zu brechen. Es fällt mir darum nicht bei, der kunstmateria- listischen Bewegung der letzten 20 Jahre allen Werth und alle Bedeutung abzusprechen, oder gar damit eine Kritik der Lehre Darwin's und seiner Xachfolger zu beabsichtigen. Dass die Theorie von 'der technisch- materiellen Entstehung aller künstlerischen Urformen eine Phase der archäologischen Wissenschaft bedeutet die, wie die Verhältnisse lagen, nothwendigermaassen einmal durchgemacht werden musste, dafür bürgen schon die Namen ihrer ersten Bahnbrecher, Semper's und Conze's, und dafür zeugt nicht minder die schrankenlose Verbreitung, die dieselbe sofort in Alldeutschland und weit darüber hinaus gefunden hat. Nun scheint es mir aber an der Zeit sich einzugestehen, dass wir uns in Sachen der Kunst iu dei- aiigedeutcicn K'ichtung ^•iel zu weit vorgewagt haben, und dass gewichtige Bedciikm. die ich im Naclifolgeiiden ent- Avickeln Averde, es uns nahelegen, mit der Tendenz, die elementarsten Kunstschöpfungen des Menschen aus stofflich-technischen Prämissen zu erklären, den Rückzug anzutreten.
Es wird sicli iu den folgeiulen Capiteln dieses Buches wiederholt rJelegenheit ergeben, die Stichhaltigkeit der bisher versuchten tech- nisch-materiellen pjrklärunyen und Ablcitniiiien einzelner Ornamente zu
Der geometrische Stil. 23
prüfen. In diesem Capitel über den geometrischen Stil haben wir es bloss mit der Ableitung der geradlinigen geometrischen Motive aus den textilen Techniken zu thun.
Auf welche Weise sollen nun die Motive des geometrischen Stils aus den textilen Techniken hervorgegangen sein?
Halten wir uns auch hiefür an Gottfried Semper, denn die Übrigen haben doch nur im Allgemeinen wiederholt, was jener noch verhältniss- mässig am deutlichsten ausgesprochen und am anschaulichsten gedacht hat. Die entscheidende Stelle findet sich im I. Bande des Stil S. 213. Nachdem er da von dem geflochtenen Zaun als ursprünglichstem ver- tikalen Raumabschluss, als der ältesten Wand gesprochen hatte, fährt er fort: „von dem Flechten der Zweige ist der Übergang zum Flechten des Bastes leicht und natürlich. Von da kam man auf die Erfindung des Webeus, zuerst mit Grashalmen oder natürlichen Pflanzenfasern, hernach mit gesponnenen Fäden aus vegetabilischen oder thierischen Stoffen. Die Verschiedenheit der natürlichen Farben der Halme veran- lasste bald ihre Benutzung nach abAvechselnder Ordnung und so ent- stand das Muster.^-
Der letzte Satz ist für uns der entscheidende. Semper drückt sich darin zwar nicht bestimmt aus, ob er die Entstehung des Musters bereits in die Flechterei, oder erst in die von ihm als eine höhere Stufe der Entwicklung aufgefasste Weberei versetzt. Infolgedessen unterlässt er es auch seine Vorstellung von dem fraglichen Vorgange an einem kon- kreten Beispiele zu erläutern. Aber so viel geht aus seinen Worten hervor, dass er selbst die Dazwischenkunft eines nichtmateriellen Fak- tors nicht zu läugnen vermag. „Die Verschiedenheit der natürlichen Farben der Halme veranlasste bald ihre Benutzung nach abM^ech- selnder Ordnung." Also nicht der reine Zufall hat das erste Muster in die Welt gesetzt, sondern der Mensch nahm eine bewusste („veran- lasste") Auswahl verschiedenfarbiger Halme vor, deren Verflechtung in rhythmischer Abwechslung („abwechselnder Ordnung") sodann zum Muster geführt hat. Es wird dem Menschen damit ausdrücklich ein kunstschöpferischer Gedanke bei dem ganzen Vorgange zugebilligt. Die Stellen in denen sich Semper zur technisch-materiellen Auffassung in direkten Widerspruch setzt, sind übrigens im Stil gar nicht so selten. Eine ganz fundamentale dieser Art, noch dazu wiederholt vorgebracht, werden wir weiter unten kennen lernen.
Einen näheren Nachweis im Einzelnen, wie die gangbarsten Motive des geometrischen Stils auf dem Wege zufälliger Faden verflech-
14 Dpi' geometrische Stil.
tmig-eii entstanden sein mochten, hat Semper, Avie sclion erwähnt wurde, nicht versticht, und ebensowenig seine zahh-eichen Nachfolger, bis auf die in jüngster Zeit erfolgten Ausführungen Kekule"s mit denen Avir uns noch im Besonderen beschäftigen werden. Das Eaisonnement lautete ungefähr folgendermaassen : Im Anfange Avar keine Kunst, sondern bloss Handwerk (nicht in Avirthschaftlichem, sondern in technischem Sinne gemeint ). Das älteste Handwerk war das textile. Mit dem Zaungeflecht und dem gCAvebten GeAA'ande kamen die geradlinigen planimetrischen ZiermotiAe in die Welt, die der Mensch dann, angezogen durch ihre formale Schönheit, auf andere Stoffe und Techniken übertrug.
Das ^laterial, mit AA-elchem man diese Theorie zu illustriren pflegt, ist überwiegend ein keramisches, zum geringeren Theile ein metallur- gisches. Thonvasen und Vasenseherljen , die man in A^orhistorischen Schichten des Erdbodens fast aller Mittelmeerländer gefunden hat, tragen überAA'iegend Ornamente des geometrischen Stils zur Schau. Sollen diese Ornamente in der That unmittelbare Ableitungen aus den textilen Verflechtungen und Fadenkreuzimgen sein, so müsste ihre Ent- stehung in sehr, sehr frühe Zeit zurückgehen. Das Werden des Musters aus dem Flechten und Weben soll ja am Anfange alles Kunstschaflcns gestanden sein. Eeichen nun die keramischen Funde aus den Mittel- meerländcrn in der Tliat auch nur annähernd in so frühe Zeit zurück?
Von demjenigen Stil, der früher als der geometrische im engeren Sinne galt, A^om Dipylon, Avird jetzt niemand mehr ein höheres Alter behaupten. Ol) seine Verbreiter in Griechenland — nehmen wir an die einAvandernden Dorer — diesen Stil in uuA^ordenklich früheren Zeiten aus der Textilkunst erfunden haben, mag einstAveilen dahingestellt bleiben. ZAveifellos ist das Dipylon des ersten Jahrtausends v. Chr. kein primiti\^er, sondern ein Avohl überlegter, festgeschlossener, rafti- nirter Kunststil. Ein Volk, das die Metalle zu bearbeiten verstand, wird nicht erst die i»rimitivsten Ornamente aus der primitiA^sten Technik (•rfunflen haben.
Aber die Ausgral;)ungen Schliemann's und AndiTcr haben uns l)e- lehrt, dass das Dipylon bei Aveitem nicht der älleste geometrische Stil bei den Mittelmeervölkern gcAvesen ist. Als solcher gelten gegenAvärtig die gravirten Linienverzierungeu auf Gefässen, die in den untersten Schichten A'on Hissarlik und in gcAvissen Nekropolen Cypcrns gefunden wurden sind. Wie steht es nun mit dem Alter dieser GefässeV (ieniäss den Fundbericliten ist auf d;is Zeitalter derselben alsbald der niyke- nisclie Stil gefolgt. Dei' niykenischc Siil ist alx-r nach /icnilich siclu-r-
Der g-eometrische Stil. 25
gestellter Annahme der neuesten Forscher auf diesem Gebiete etAva in die jüngere Hälfte des zweiten Jahrtausends v. Ch. zu setzen. Wir gelangen also mit den geritzten geometrischen Verzierungen von Cypern und Hissarlik gewiss nicht Aveit in das dritte Jahrtausend v. Chr. zurück. Ist dies ein Zeitalter, in das wir am Mittelmeere die erste Erfindung des Musters herabrücken dürfen? Hat nicht schon mindestens ein Jahr- tausend früher im Nilthale eine Kunst geblüht, die Aveit über das geo- metrische Stadium hinaus gediehen AA^ar? Es ist eine ganz AAÜlkürliche, durch nichts bewiesene Annahme, dass die geometrischen Verzierungen auf den bisher getundenen mittelländischen Tlionscherben auf diese letzteren A^on den Erzeugnisson der Textilkunst übertragen AA^orden seien. Ein Material, das auch nur entfernt an jene Zeiten heranreichen AA'ürde, in denen das erste Muster in die "Welt gekommen ist, steht uns — etAA^a mit einziger Ausnahme der noch zu besprechenden Höhlenfunde aus der Dordogne — heute nirgends zur Verfügung. ]\Ian kann an die Theorie von der Textiltechnik als del' ältesten musterbildenden Technik glauben, aber das keramische Material aus den Mittelmeerländern darf man nicht zur Illustration und zum BcAveise jener Theorie heranziehen. Gehen die betreffenden Vasenornamente in der That auf technische Textilprodukte zurück, so hat sich der bezügliche Process gewiss schon Jahrtausende früher A'ollzogen, als die hiehergehörigen Vasen entstan- den sind.
Freilich herrscht ein grosser Unterschied in der KulturfiUiigkeit der Völker, — ein Unterschied der nur za einem Theile von den äusseren Verhältnissen (klimatischen, geographischen u. dgl.) unter denen sie leben, bedingt ist. Aber auf der Insel Cypern etwa um 2000 oder selbst um 3000 \. Chr. ein Volk zu suchen, dass bis dahin kein Muster gesehen hätte oder an einem gesehenen achtlos vorübergegangen Aväre und nunmehr erst sich spontan zur Erschaffung von Flächenmustern aufgerafft hätte, Avird man sich ebensoAA^enig entschliessen können, als man die in den assyrischen Trünnnerstätten oder in Jerusalem ge- fundenen Vasen mit geometrischen Ornamenten, deren Entstehung doch in die Zeit höchster orientalischer Kunstblüthe fällt, als unmittelbare Uebertragungen aus der Textilkunst aufzufassen vermag. Noch weniger als die geometrisch verzierten Vasenscherben aus den Mittelmeerländern Avird man die ähnlich ausgestatteten Thon- und JVIetallfunde aus der nord- und mitteleuropäischen Bronzezelt als Zeugnisse einer unmittel- baren Uebertragung der Linienornamente von Textilgegenständen auf anderes Material ansehen dürfen, da diese Funde gemäss der sich immer
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mehr Bahn brechenden Erkenntnis^ noch jünger sind und zu den mittelländischen vielfach im Abhäng-igkeitsverhältniss stehen.
Mit Monumenten lässt sich also die Zeit und der Process, worin sich die supponirte Entstehung des Musters aus einer Toxtil-Technik vollzogen hat. nicht belegen. Nichts beweist uns, dass die aus den
Mittelmeerländern und Nordeuropa vor- liegenden prähistorischen Funde uns das älteste Kunstschaffen in jenen Gegenden repräsentiren , und dass nicht ebenda- selbst in noch früheren Zeiten ein w^esent- lieh anderes Kunstschaffen bestanden haben könnte. Ja noch mehr: es giebt Monumente, welche der Annahme, dass der geometrische Stil in Europa der älteste Kunststil gewesen wäre, direkt
/.; V .myx , ^a.^^^ widersprechen.
. ■■'-AwA ''M 1^1 Es ist heute über ieden Zweifel hiu-
' yß^/r ' j aus erwiesen, dass es menschliche Ge-
schlechter gegeben hat, die ein sehr be- merkcnswerthes Kunstschaffen entwickelt haben , ohne dass eine textile Technik (mit Ausnahme des Zusammennähens von Thierhäuten) bei ihnen bisher nach- gewiesen werden konnte. Der Schutz des Leibes, den man als ein so elemen- tares Bedürlhiss , als Bahnbrecher für die erste älteste Technik, für die Textii- kunst zu betrachten pflegt, wairde den- selben augenscheinlich durch andere Dinge gewährleistet, als dnrcli den ge- flochtenen Pferch und (Uncli gewebte Gewänder. Dieses Geschlecht von Men- schen wolnite in Höhlen und bekleidete sicli mit den Häuten der erlegten Jagd- thiere. Die Niedrigkeit der sittlichen Kulturstufe dieser Völker kann man daran erkennen, dass sie das Mark aus (hn Kimchen der erlegten Thiere saugten, und das verschmähte Fleisch in ilin-n eigenen Wolm- höblen verfaulen liessen. Es ist eine Art Kannil)alismus, der uns da entgegentritt. Die Iläutc wusstcii diese Ildlileiilx'wnlnicr zusaniininzu-
rig. 1.
iJolchgriff in lleuntbierknochcn geschnitzt, Laugerie-Basse.
Der o-eometrische Stil.
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nähen, wie zahlreich aufg-efmidene Nadeln aus Bein und Gräten be- weisen; als Material hiezu dienten ihnen die Sehnen der Thierfüsse, was sich ebenfalls aus den, an den Beinkuochen vielfach beobachteten Einschnitten zur Evidenz ersehen lässt. Also das Zickzack als spontanes Produkt der Naht könnte man ihnen allenfalls lassen, wenn sie nicht nachweislich weit Grösseres und Vollkommeneres zu leisten im Stande gewesen wären. Denn diese halben Kannibalen mit ihren roh zube- hauenen, ungeglätteten Steinbeilen übten eine wirkliche und unan- zweifelbare Skulptur.
Die Schnitzereien (Fig. 1) und Gravirungen (Fig. 2) in Thierknochen. die man auf mehreren Punkten von Westeuropa, insbesondere in den Höhlen Aquitaniens gefunden hat, und deren Echtheit angesichts der
Fig. 2. Gravirter Reiinthierknochen. La iladeleine.
Überaus genauen und gewissenhaften Grabungen und i'undberichte namentlich Lartet's und de Christy's zum grössten Theile ausser allem Zweifel steht, sind schon eine Reihe von Decennien bekannt und ver- öffentlicht^j. Bisher hat aber bloss die Anthropologie davon gebührende Notiz genommen ; die Kunstgeschichte hat sie fast vollständig ignoriren zu dürfen geglaubt. Ich gebe nun vollständig Georges Perrot Recht, wenn er in der Einleitung zu seiner Histoire de l'art dans l'antiquite die bezüglichen Kunsterzeugnisse als ausserhalb des Rahmens seiner ge- schichtlichen Darstellung stehend erklärt und sich damit für berechtigt hält, dieselben ausser Erörterung zu lassen. In der That haben die aquitanischen Höhlenfunde mit der Entwicklung der antiken Künste,
■*) Vg'l. hiefür namentlich die Reliquiae Aquitanicae, ferner den Dictionnaire archeologique de la Gaule, (aus welchem unsere Figg.2, 3 und 6 entlehnt sind), und die knapp zusammenfassende Bearbeitung von dem besonnenen Alex. Bertrand: La Gaule avant les Gaulois , woraus unsere Fig. 1.
Riegl, Stilfrageu. 2
Ig Der geometrische Stil.
soweit Avir sie geg'enwärtig überblicken, nichts Aiigenfälliji'es gemein. Man nehme irgend einen von den ältesten geometrisch verzierten Thon- scherben und wird daran mehr historische Beziehungspunkte zur späteren hellenischen Kunst entdecken, als an den besten geschnitzten Handgriffen und gravirten Thiertiguren aus der Dordogne. In letzterem Falle handelt es sich also anscheinend um eine isolirte Entwicklung, isolirt wenigstens in Bezug auf die späteren mittelländischen Künste. Was dagegen den Gegenstand der Kunstgeschichte des Alterthums ausmacht, das sind Erscheinungen, die entweder schon ursprünglich unter einander in "Wechselbeziehungen gestanden sind, oder doch im Laufe der Entwick- lung in einander Üiessen: Orient und Occident tauschen sich fortwährend einander aus, und alles drängt unaufhaltsam zum Endziele der Ge- sammtentwicklung der antiken Künste, zur Schaffung der hellenistisch- römischen Weltkunst. Mit dieser letzteren haben die Troglodyten Aquitaniens, soviel wir zu sehen vermögen, niemals, weder niittell)ar noch unmittelbar, zu thun gehabt.
Lassen sich also genügend triftige Gründe finden, welche die von der Kunstgeschichte des Alterthums den Ilöhlenfunden der Dordogne Vüsher bezeugte Gleichgiltigkeit zu rechtfertigen geeignet sein könnten, so ist dies keinesAvegs der Fall mit der Geschichte der technischen Künste, der ja so viel und wesentliches an der Aufhellung der (an- geblich rein technischen) Anfänge der Künste gelegen sein sollte. Da haben wir Ja nun eine Kunst, die in völlig unmessbare Kulturperioden der Menschheit hinaufreicht^). Von keinem der europäischen und west- asiatischen Völker, bei denen man den geometrischen Vasenstil gefunden hat, existirt ein genügender Grund zu der Annahme, dass dieselben noch auf so barbarischer Kulturstufe gestanden wären wie die Troglo- dyten Aquitaniens. Es hiesse nun gewiss den Forschern bitteres Un- recht thun, die mit so viel uneigennützigem Eifer und peinlicher wissen- schaftlicher Sorgfalt dem Studium dieser Fragen obliegen, wenn man die Vermuthung äussern wollte, dass bloss die augenfällige Schwierig- keit jene figuralen Schnitzereien uiul Gravirungcn mit der 'I'licorie
■) (Jb zur Zeit der Entstellung der bezüglichen Kunsterzeugnisse noch das Manimuth in Frankreich hauste, oder nur das einer späteren Zeit angehö- rige Rcnntliier. ist in diesem Fnlie ziemlich irrelevant. Dass diese paläolithische „Steinzeit" weit hinter .jene Zeit zurückgeht, aus welcher die von der klassi- schen Archäologie beliandelten vorgriechischen Funde geomctrisclien Stils und vollends diejenigen der Bronzezeit stnnniicn. wird von Niemandem hcstritfcn und ist geologisch festgestellt.
Der geometrisclie Stil. ig
von der technisch -materiellen Entstehung der Künste in Einklang- zu bringen, das beobachtete hartnäckige Stillschweigen über diesen Gegen- stand verschuldet hätte. Man betrachtete vielmehr diese Dinge offenbar als eine isolirte bizarre Erscheinung, mit welcher man vorläufig nichts anzufangen wusste, und für die sich vielleicht mit der Zeit und mit fortschreitenden Ausgrabungen eine befriedigende Formel finden lassen würde. Wir, denen Bedenken an der Allgemeingiltigkeit der Theorie von der technisch-materiellen Entstehung der Künste von anderer Seite her gekommen sind, haben alle Ursache, uns mit den bezüglichen frühesten aller bisher aufgefundenen menschlichen Kunsterzeugnisse näher vertraut zu machen. Wenn selbst ein so umsichtiger und das Gebiet ornamentaler Erscheinungen allseitig überblickender Forscher wie Sophus Müller sagen konnte: „eine Erklärung der paläolithischen Kunst wird sich wegen des spärlichen Materials nie über unsichere Hypothesen erheben können"^), so haben Avir darauf die Erwiderung, dass uns da Avenigstens ein Material überhaupt vorliegt, und wäre es ein noch spärlicheres als es in der That ist, 'wogegen die beliebten technischen Ableitungen der Urmotive vollständig in der Luft hängen, da doch das Material, auf welches sie sich zu stützen vermöchten, nicht entfernt in jene Zeit zurückreicht, in welcher sich die Entstehung der „Urmotive" vollzogen haben muss. W^eleher Art sind nun die von den halbkannibalischen Troglodyten Aquitaniens hinterlassenen Kunst- erzeugnisse gewesen?
Den besten und bequemsten Überblick über dieselben gewinnt man dennalen im ]Musee des antiquites nationales im alten Schlosse von Saint Germain en Laye, wo sie sich, sei es in Originalien, sei es in Ab- güssen, fast vollständig zusammengestellt finden. Material ist fast aus- schliesslich der Thierknochen, und zwar überwiegend Rennthierknocheii, die Technik Schnitzerei oder Gravirung. Da ist es nun überaus lehr- reich zu beobachten, in welchem Verhältnisse die beiden Techniken, Schnitzerei und Gravirung, an diesen ältesten aller bisher gefundenen Kunstdenkmäler der Menschheit zu einander stehen. Sehr häufig be- gegnet uns das volle Rundwerk, z. B. ein Rennthier als Griff einer Waffe, etwa eines Dolches (Fig. 1)'). Das gleiche Motiv kehrt sogar öfter
'^) Thierornamentik im Norden 177.
') Die g-rösste Beaclitung- verdient hiebei die wohlüberlegte und doch nicht gegen die Natürlichkeit verstossende Art, in welcher die Extremitäten des Thieres an den Rumpf angelegt erscheinen; das Stück ist übrigens nach Lartet in unvollendetem Zustande geblieben.
2*
20 Der geometrische Stil.
wieder. Dann haben wir eine ganze Stufenleiter von Entwicklungs- phasen, in denen sich der plastische Charakter allmälig verflüchtigt: zunächst ein flach gehaltenes RundAverk, dann ein mehr oder minder hohes Relief, ein Flachrelief, und endlich die blosse Gravirung (Fig. 2), die häufig mit dem Flachrelief zusanmien entgegentritt, indem eines in das andere übergeht.
Es entspricht dies völlig dem natürlichen Processe, den wir uns schon am Eingange dieses Capitels in rein spekulativer Weise konstruirt haben. Die unmittelbare Reproduction der Naturwesen in ihrer vollen körperlichen Erscheinung, im "Wege des durch einen weiter unten zu be- zeichnenden psychischen Vorgang zur Bethätigung angespornten Nach- ahmungstriebes, steht hiernach am Anfange alles Kunstschaff'ens: die ältesten Kunstwerke sind plastischer Natur. Da man die Naturwesen immer nur von einer Seite sieht, lernt man sich mit dem Relief be- gnügen, das eben nur so viel vom plastischen Scheine wiedergiebt, als das menschliche Auge liraucht. So geAvöhnt man sich an die Darstel- lung in einer Fläche und gelangt zum Begriffe der Umrisslinie. Endlich verzichtet man auf den plastischen Schein vollständig, und ersetzt den- selben durch die Modellirung mittels der Zeichnung.
Das wichtigste Moment in diesem ganzen Processe ist zweifellos das Aufkommen der Umrisslinie, mittels welclier man das Bild eines Naturwesens auf eine gegebene Fläche bannte. Iliemit war die Linie als Element aller Zeichnung, aller Malerei, überhaupt aller in der Fläche bildenden Kunst erfunden. Diesen Schritt hatten die Troglodyten Aquitaniens bereits weit hinter sich, trotzdem ilnien die Fadenkreu- zungen der Textilkunst wegen Mangels eines Bedürfnisses nach den Plr^eugmissen derselben noch völlig fremd gewesen sein müssen. Das technische Moment spielt gewiss auch innerhalb des geschilderten Pro- cesses eine Rolle, aber beiweitem nicht jene führende Rolle, Avie sie ilnn die Anhänger der technisch -materiellen Entstehungstheorie vindit-iren möchten. Der Anstoss ging vielmehr nicht von der Technik, sondern von dem l)estiiiimt('n Kunstwolh'ii aus. INFaii wollte das Abliihl eines Naturwesens in todlem Matei'ial schaffen, und erfand sich hierzu die nöthige Technik. Zum Zwecke des handsameren Greifens Avar die Rundfignr eines Rcnnthiers als Dch-hgrilf gewiss nicht notlnvendig. Ein immanenter künstlerischer Tri<li, der im Menschen rc^c und ii.icli Durchbruch ringend vorhanden war yny ;dlei- lOrtindung texliler Scliutz- wehren für den Körper, musst«- ihn ilazu gcriihil haben den beinernen Griff in l'Virm eines Rennthien-s zn biklcn.
Der geometrische Stil. 21
Bevor Avir aber das Wesen dieses Triebes nälier zu bezeiclinen suclien, empfiehlt es sich, bei dem geschilderten Entwicklungsgang der Flachverzierung aus dem Plastischen noch einen Augenblick zu ver- weilen, um darzuthun, dass damit eigentlich gar nichts so Unerhörtes vorgebracht wurde.
Eine Bestätigung für das Gesagte bietet nämlich einmal auch das Studium der altegyptischen Kunst, d. i. jener Kunst, die weiter als irgend eine andere unter den antiken Künsten in die verflossenen Jahr- tausende der Menschheit hinaufreicht. In bemaltem Relief en creux sind die Bildwerke in den Gräbern des alten Reiches ausgeführt; erst in der Kunst des mittleren Reiches, in den Felsengräbern von Beni Hassan be- gegnen wir reinen figürlichen Flachmalereien, wenngleich der Übergang zu den letzteren schon im alten Reiche sich vorbereitet hat. Aber auch die Betrachtung der Kunstgeschichte im Allgemeinen lässt sich zur Be- stätigung heranziehen: Seit den Tagen des Phidias ist die Skulptur niemals mehr zur gleichen Blüthe gediehen, weil schon seit hellenistischer Zeit immer ein mehr oder minder starkes malerisches Element in der Skulptur sich geltend gemacht hat, und zwar entsprechend dem allge- meinen Zuge der Zeit und ihrer Kunst mit eiserner Naturnothwendig- keit sich geltend machen musste. Dass es auf diesem Wege keine Umkehr giebt, dass Alles' auf die Vervollkonnnnung der darstellungsfähigeren Malerei hindrängt, lehrt zur Genüge die moderne Kunstentwicklung.
Die Techniken, welche an den Erzeugnissen der Troglodyten Aqui- taniens zu beobachten sind, gehören nicht specifisch dem sogen. Kunst- handwerk, sondern vielmehr der sogen, höheren Kunst (Figuralskuli)tur) an, wodurch freilich das Sinnlose und Ungerechtfertigte, das in dieser Scheidung vom wissenschaftlichen Standpunkte ans liegt, erst recht augenfällig wird. Das Gleiche bestätigt uns die Betrachtung des Inhalts. Wie schon erwähnt, handelt es sich hiebei vorwiegend um Reproduc- tionen von Naturwesen, nicht um bedeutungsarme „bloss ornamentale" Flächenfüllungen. Die Thiere, die dem Menschen zur Nahrung dienten, oder mit denen er im Kampfe lebte, hat er auf seinen Geräthen bildlich dargestellt: Rennthier, Pferd, Bison, Steinbock, Rind, Bär, Fisch. Auch ihn selbst, den Menschen, finden wir, sowohl gravirt als in Rundwerk, aber weit unbeholfener als die Thierbilder wiedergegeben: eine Erschei- nung die wir in primitiven' Künsten allenthalben Avahrnehmen können.
Wenn man also bisher gewöhnlich die rein zwecklichen Techniken der Textilkunst an den Beginn des menschlichen Kunstschaffens gestellt hat, so widersprechen dem die Höhlenfunde der Dordogne in der aller-
22 Der geometrische Stil.
■bestimintes.ten Weise. Wir tretfen hier gerade diejenig'en Techniken, bei denen der Gegenstand der Darstellung-, der künstlerische Inhalt von vornherein gegeben sein mnss, bevor derselbe aus dem todten ^Material herausgearbeitet werden kann. Der Zweck aber, um dcssent willen dem Material die beschriebenen thierischen Formen, sei es in plastischer sei es in flacher Ausführung, gegeben wtirden, kann unmöglich ein anderer als ein rein künstlerischer, ornamentaler gewesen sein. Man wollte das Geräthe schmücken. Das Schmuckbedürfniss ist eben eines der elementarsten Bedürfnisse des Menschen, elementarer als das- jenige nach Schutz des Leibes. Es ist dies ein Satz, der hier nicht zum ersten ^lale vorgebracht Avird und zu dem sich auch Semper wiederholt ausdrücklich bekannt hat^). Um so unbegreiflicher muss es erscheinen, dass man trotzdem die Anfange des Kunstschaffens erst nach den Erfindungen der Techniken, die den Schutz des Leibes zum Zwecke haben, setzen wollte. Sehen wir doch heute noch manche polynesische Stämme jedAvede Kleidung verschmähen, aber die Haut von der Stirne bis zu den Zehen tätoAviren, d. i. mit linearen Ver- zit-rungen schmücken'-^). Leider feldeii uns die Mittel um zu entscheiden, ob die Troglodyten Aquitaniens ihre Haut gleichfalls tätoAAärt haben; auf den erAväliuten Xachbildungen von menschlichen Figuren von ihrer Hand lässt es sich nicht nachAA'eisen. Dass sie aber Schmuckgehänge trugen, ist durcli Funde sichergestellt. Denn zu Avelch' anderem ZAvecke als zu demjenigen, etAA^a auf eine Sehne oder einen Baststreifen aufge- reiht um den Hals getragen zu Averden, konnten die durchlöcherten Rinder- und Bärenzähne, zum Tlieil gleichfalls mit graAii-teii Tliier-
*) An jener obcitirten Stelle Stil I. 21o: „Die Kunst des liekleidens der Nacktheit des Leibes (Avenu man die Bemalung- der eig-enen Haut nicht dazu rechnet) ist A'ennuthlich eine jüngere Erfindung als die Beniitzung deckender Oberflächen zu Lagern und zu räumlichen Abschlüssen." — IL 466 . . . „der Schmuck des eigenen Leibes aus kulturphilosophischen Gründen den Schönheitssinn zuerst zu aktiver Bethätigung auffordert. "
•') Einen Widerspruch mit Semper's eben erörterter Annahme begründet es, Avenn er I. 92 sagt: „Die Ornamente auf der Haut dieser Völker sind ge- bildet aus gemalten oder tätOAvirten Fäden" . .. Diesen Widerspruch mildert er dadurch, dass er das TätoAviren möglicherAveise nicht für die Eigenthüm- Jichkeit eines primitiA'Cn, sondern bereits eines sekundären Kulturzustandes erklärt, welche Annahme liinAviederum nur zulässig erscheint miter der bei Semper öfter Aviederkehrcnden Idee A^on einem ursprünglichen \'olikommen- lieitszustand des Menschengeschlechts. Wie verträgt sich aber diese letztere Idee Aviederum nnt der Descendcnzthcorie und der ihr ])arallel gehenden teclinisch-matericllcn Entstehxuigstheorle der Künste?
Der g-eometrische Stil.
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bildern bedeckt, gedient luibeu, deren man eine ganze Anzahl in den Höhlen gefunden hat? Hier begegnen wir bereits der Reihung als elementarem Kunstgesetz, uiid nicht erst bei den regelmässigen Fadenkreuzungen der Textilkunst, die der Höhlenmensch noch nicht ge- braucht hat, weil ihm das Bedürfniss darnach augen- scheinlich noch mangelte. Und das Gleiche gilt von der Symmetrie. Es ist schon Lartet und Bertrand auf- gefallen, dass auf einem Geräthe, das ersterer für einen Marklöffel hält, sich symmetrisch vertheilte Relieforna- mente finden"'). Aber wir begegnen an den Erzeug- nissen des aquitanischen Höhlenmenschen auch solchen Verzierungen, die reiner Rhythmus und abstrakte Sym- metrie sind, d. h. den linearen Verzierungen des geo- metrischen Stils.
Wir gewahren auf gravirten Rennthierknochen die Zickzacklinien (Fig. 3)"), das sogen, Fischgrätenmuster, dieses letztere mit der rhythmisch bereicherten Variante, dass beiderseits Lagen von je drei Stricheln miteinander alterniren, netzartig gekreuzte Linien (das scheinbar textilste aller Muster), gereihte liegende Kreuze u. a. m. Da haben wir es offenbar nicht mit Abschreibungen aus der Natur zu thun: es sind rein omamentale Gebilde, bestimmt eine gegebene Fläche zu verzieren. Die Be- stimmung war dictirt von dem gleichen Schmuckbedürf- niss oder horror vacui, AAie die Thierbilder. Zu beachten bleibt aber hiebei, dass diese geometrischen „Muster" den Thierbildern an Zahl beträchtlich nachstehen. Wer diese Bevorzugung des Thierbildes nicht für zufällig halten will, dem muss sich schon daraus eine Priorität der Entstehung desselben gegenüber den geometrischen „Mustern" und die überwiegend plastische Tendenz des
Fig. 3.
Marklöft'el aus
Rennthierkuoclien ,
mit gravirten
Verzierungen.
Laugerie Basse.
^°) La Gaule avant les Gaulois G6: . . . „porte des onienients en relief disposes symmetriquement et d'un tres hon g'oüt".
'') Die bisherig-en Publikationen haben den geometrischen Verzierungen dieser Höhlenfunde beg'reiflichermaassen weit weniger Beachtung* g'eschenkt, als den verblüffenden plastischen Gebilden. Unsere Fig. 3 giebt das verhält- nissmässig- beste unter den im Diction. arch. de la Gaule publicirten Stücken wieder: unter den Funden selbst befinden sich aber weit besser und strenger gezeichnete Muster, als das vorliegende flüchtis'e Zickzack.
24 Dei' geometrische Stil.
primitiven menschlichen Kunstschatt'enstriebes ergeben. Wie kam man nun auf die Eründung dieser „Muster"'? Die Halm- und Fadenkreu- zungen derTextilkunst, die angeblich hätten ein Vorbild abgeben können, ■waren den Leuten augenscheinlich noch unbekannt. Es ist aber jL::ar nicht einzusehen, warum man derselben zu dem Zwecke überhaupt bedurft hätte. Wie die Troglodyten zur Erfindung der Linie als des Elementes aller Flächenzeichnung und Flächen Verzierung von der Plastik her gelangt sein mochten, haben Avir ja oben gesehen. Es ist dies offenbar im natüi'lichen Verlaufe eines überwiegend künstlerischen Processes geschehen. Das Element der Linie also kannten die Höhlen- menschen bereits; es bedurfte nur der Zusammenstellung derselben nach den Regeln des Rhythmus und der Symmetrie die beide, wie wir gleichfalls gesehen haben, den Troglodyten nicht minder bekannt und vertraut Avaren. Wer Bärenzähne zum Schmucke neben einander reiht, Avird dasselbe mit graA'irten Linien zu Stande bringen. Der geometrische Stil bei den Troglodyten Aquitaniens erscheint hienach nicht als materielles Produkt einer handwerklichen Technik, sondern als reine Frucht eines elementaren künstlerischen Schmückungstriebes.
Die gesammte Kunstgeschichte stellt sich ja dar als ein fortge- setztes Ringen mit der Materie; nicht das Werkzeug, die Technik ist dabei das Prius, sondern der kunstscli äffende Gedanke, der sein Ge- staltungsgebiet erAveitern, seine Bildungstahigkeit steigern Avill. Warum soll dieses Verhältniss, das die gesammte Kunstgeschichte durchzieht, nicht auch für ihre Anfange gelten?
Was wir also über das Kunstschaffen der ältesten, in iliren Kultur- überresten uns bekannt gcAvordenen, anscheinend noch auf halbkanni- balisclier EntAvicklungsstufe gestandenen Vcilker Avissen, das ZAvingt uns nicht bloss in keiner Weise, eine techniscli-matericllc Entstehung der Künste und insbesondere der Zierfornu-n des geometrischen Stils an- zunehmen, sondern es Aviderstreitet sogar direkt einer solchen Annahme. Angesichts dieses Resultates dürfen AAär es AVohl unterlassen, uns im Wege spekulativ<'r I^rA\;iguiig den Process veransch.nilichcn zu tracliten, wie denn etAva doch das eine oder antlere geonu-trisclie .Motiv mittels einer Textilteehnik si)ontan hervorgelu-aclit und zur l'bertragung auf anderes Material mittels einer anderen Technik l)ercitgestellt Avurden sein konnte. Dass zur Erklärung der Entstehung aller geometrischen Ornamente die textilen Techniken allein nicht ;nisr('ichen, Avurde schon mehrfach eingesehen, und man hat zu diiu ]',( hufc aucli ;indere Tech- niken, insljcsondcre die ciinT \ ci-liiilinissmässig vorgeschrittenen Knltui--
Der geometrische Stil. 25
stufe augeliörigen Metalltechniken herangezogen. Auf einzelne Ver- suche dieser Art zurückzukommen wird sich in den folgenden Capiteln wiederholt Gelegenheit bieten. An dieser Stelle, wo auf die aller- dings Aveitaus im Vordei'grunde der ganzen Controverse stehenden tex- tilen Techniken allein Bezug genommen Avurde, obliegt es uns noch, uns mit dem einzigen Versuche zu beschäftigen, der bisher gemacht worden ist, um die Übertragung der geometrischen Ziermotive von den Textiltechniken auf ein anderes, und zwar auf das keramische Gebiet, in greifbarerer, über bloss allgemeine 4T-^fstellungen hinaus gehender Weise zu erklären.
Kekule hat in der Juli-Sitzung der Berliner Archäologischen Ge- sellschaft vom J. 1890 eine vorläufige Mittheilung ül)er den „Ursprung von Form und Ornament der ältesten griechischen und vorgriechischen Vasen" gemacht, welcher eine ausführlichere Darlegung folgen sollte. Bis jetzt ist es bei dem im archäologischen Anzeiger von 1890 S. 106 f. abgedruckten Sitzungsberichte geblieben, und da im engen Rahmen eines solchen leider nur für allgemeinere Bemerkungen Platz war, muss auch ich mich im Folgenden auf Gegenbemerkungen allgemeinerer Natur beschränken.
Kekule ging aus von der Beobachtung der Ethnologen, wonach die Korbflechterei der Töpferei Aveit vorausgegangen Aväre. Da er nun fand, dass „innerhalb des sogen, mykenischen Stils, bei den sogen. Dipjion- und den kyprischen Vasen u. dgl., bei den altrhodischen, melischen Thon- gefässen u. s. w. korbartige Formen und korbgeflechtähnliche Orna- mente, oft auch beide zugleich sich erkennen lassen", so schloss er daraus, dass „die ersten bestimmenden Vorbilder für die Vasen leib- haftige Körbe, für ihre Ornamentik Korbflechtmotive" Avaren. Fast noch mehr Gewicht als auf die Abstammung der geometrischen Orna- mentmotive von den Korbflechtmotiven scheint Kekule auf die Formen der Vasen zu legen, die er unmittelbar von Körben entlehnt sein lässt. Das geflochtene Material, auf das er seine diesbezüglichen Beobachtungen stützt, ist naturgemäss fast durchweg neuerer Entstehung, aber sehr umfassend und reichhaltig.
Was zunächst die zur. Voraussetzung gegebene Beobachtung der Ethnologen betrifft, so mag dieselbe vielleicht richtig sein; ausgemacht ist sie sicher nicht. Ich für meinen Theil mache mich sofort anheischig, in Nachahmung der hohlen Hand oder einer ausgehöhlten Kürbishälfte aus angefeuchtetem Thon eine Trinkschale aus freier Hand schlecht und recht zu formen, Avogegen ich in Verlegenheit käme, Avenn man
26 Der geometrische Stil.
mir zumuthete einen Korb zu flechten. Auch dürfen die Körbe, die da zum Beweise herangezogen Averden, nicht so ohne weiteres als „Urkörbe", als Erzeugnisse einer primitiven Korbflechterei angesehen werden. Es giebt eine KiTurü^t-Korl^flechterei ebenso wie eine Kunstkeramik: dieser Kunst -Korbflücliterei mit ihren schrägen und complicirten, durchaus nicht rein durch die Technik bedingten Verflechtungen gehören Avohl auch die von Kekule angeführten exotischen Korbflechtereien an, deren Schönheit iind Stilgefühl er gewiss mit Recht rühmt. Aber nehmen wir in der That an, dass die Menschen früher Körbe geflochten als Thongefasse geformt hätten. Hatte man sich bei der Bereitung dieser letzteren in der That bloss an Körbe als Vorbild zu halten, oder lagen nicht andere Vorbilder zu dem Zwecke nälier? Thongefasse dienten zum Unterschiede von den Körben namentlich zur Fassung und Autbe- wahrung flüssiger Stofte. Die Vorbilder hiefür in der Xatur und aller "Wahrscheinlichkeit nach die Vorläufer in dieser Funktion waren die hohle Hand und Fruchtschalen, Avodurch man von vornherein auf rund- liche Formen hingewiesen Avar, ohne dass es hiefür der Analogien der Körbe bedurft hätte. Schon die Handsamkcit erforderte beim Thon- gefäss die Eundung, all dies natürlich vor der Erfindung der Dreh- scheibe, die vollends aus der Rundung ein „technisches" Postulat ge- macht hat. Bei Körben waren sogar viereckige Formen viel natürlicher als beim Tliongefäss. Hier ist der Punkt, wo ich es bedauere, dass der mir vorliegende Sitzungsbericht Kekule's Gedanken nur so auszugs- Aveise Aviedergiebt. "Wenn da gesagt Avird: „im JMaterial des Tliones sind gerade so gut andere zweckentsprechende Gefässformen denkbar, als die, Avelche gcAvälilt und ausgebildet Avorden sind, und die ästhetischen Ausdeutungen, Avelclie man Acrsucht hat, reichen zur Erklärung nicht aus", so kann ich dem gegenüber aucli nur im Allgemeinen bemerken, da.ss gerade die bezügliclie Partie aus Semi)er"s Stil, auf Avelche im Obigen offenbar angespielt ist, mir immer nocli als eines der überzeu- gendsten Capitel seines Werkes gilt, namentlich um des Umstandes Avillen, dass A'on Semper hiebei keineswegs bloss „ästhetische Ausdeu- tungen" versucht, sondern auch das statische Erfahrungsnioment in reclit sinnfälliger und überzeugender Weise berücksichtigt Avorden ist. ZAveifellos hat Kekul6 bei der Enunciation des obigen Satzes ganz be- stimmte Beobachtungen im Auge gehabt, \'on denen es höchst er- Avünscht Aväre, dass er sie in vollständigerem Maasse zur allgemeinen Kenntniss brächte. Denn die ZAvei einzig<-ii Beweispunktc dii' er daselbj^t A'orbringt, sinfl un>eli\\ii- zu eutkräfteu. Es heisst nämlieh Aveiter: „Beim
Der g-eometrische Stil. 27
Korbflecliten ist es z. B. etwas Natürliches, class man den runden, oben offenen, nach unten sich verengenden Haupttheil kleiner wiederholt und, ihn umstülpend, als Fuss verwendet; dass man ihn ein zweites Mal wiederholt und mit einem aus Bastenden gewundenen Knopf ver- sehen als Deckel oben aufsetzt — für den Töpfer liegt an sich kein Grund vor, gerade diese Formen zu Avählen." Dem gegenüber ist erstens zu bemerken, dass mit einem Fussring versehene Vasen eine höhere Standfähigkeit besitzen als solche ohne Fussring, also das Vorhanden- sein dieses letzteren am Korb wie an der Vase durch einen unmittelbar gegebenen praktischen Zweck gefordert war. Zweitens, dass es zwar für uns schM'Cr hält, uns heute in den Gedankengang des primitiven Töpfers hineinzufinden, dass es aber nicht minder schwer hält, sich auszudenken, wie er den Deckel anders, auf eine dem Töpfer natür- lichere Weise hätte machen sollen. Ebenso wenig einleuchtend ist mir die darauffolgende Bemerkung, dass „auf die flachrundlichen Henkel- formen Avelche z. B. bei den altböotischen Schalen auffällig sind, kein Töpfer je selbständig gekommen sein kann."
SoAveit von den Formen der ältesten Vasen in ihrem Verhältnisse zu den Körben. Was aber uns im vorliegenden Falle noch mehr in- teressirt, das ist die Ableitung der gangbarsten Ornamentmotive der Vasen von Korbflechtmotiven. Leider sind Kekule's diesbezügliche Ausführungen im Einzelnen noch kargere als hinsichtlich der Formen. „Bei vielen Henkeln weist das Ornament schon äusserlich ganz unzwei- deutig auf den Ursprung hin." Das ist noch die speciellste Bemerkung im ganzen Berichte; man hat dabei offenbar an die in gewundener Strickform plastisch modellirten oder in ähnlicher Weise bemalten Henkel zu denken, wie sie sich mehrfach, aber keineswegs an den aller- frühesten, wirklich prähistorischen Vasen, z. B. auf den Schnabelkannen und anthropoiden Gefässen, vorfinden. Dass gelegentliche Uebertragungen von einem Gebiete auf das andere möglich waren und stattgefunden haben mögen, wird auch kein Besonnener in Abrede stellen; aber die- selben sind eher das Produkt einer reiferen, raffinirteren, mit dem Eeich- thum der technisch zu bewältigenden Formen spielenden Kunst, als das imitative Nothprodukt einer aus den Anfängen sich emporringenden Kunstübung. Und hier muss ich dasselbe wiederholen, was ich schon früher (S. 15) nachdrücklich hervorgehoben habe: fast das gesammte Vasenmaterial, das uns heute zur Verfügung steht und das auch Kekule zum Substrat seiner Untersuchungen gedient hat, ist ein verhältniss- mässig spätes, mit der Urzeit sich gar nicht mehr berührendes. Wie
28 Der g'eometrische Stil.
soll in einer Zeit wie der mykenischen, die Metalle zu inkrustiren ge- wnsst hat, Eaum sein für eine nachahmende Üliertragung- von Formen und Ornamenten von den Produkten des primitivsten Kunsthandwerks? Und auf die niykenische Kunst folgt erst das Dipylonl Selbst Avenn sich zur Evidenz nachAveisen Hesse, dass die bezüglichen Formen und Ornamente nur auf geflochtenen Körben in die Welt gekommen sein konnten, müsste ein so zähes atavistisches Festhalten an denselben in der Keramik von der supponirten Primitivzeit bis in die glänzenden Jahrhunderte niykenischer Kultur wunderbar erscheinen. Wir haben aber ..Korbflechtmotive" auf Beinschnitzereien eines Volkes gefunden, dem die Textilkunst augenscheinlich fremd und nicht Bedürfniss Avar, und ebenso haben AA'ir auf dem Wege rein spekulatiA^er Schlüsse ge- funden, dass die plauimetrischen Liniencombinationen nach den Regeln des Rhythmus und der Symmetrie nicht erst des materiellen Anstosses einer geflochtenen Matte bedurften, um in die Welt zu kommen.
Wenn ich also bekennen darf, dass Kekules Ausführungen Avenigstens in dem beschränkten Ausmaasse, in dem sie bisher in die Öffentlichkeit gedrungen sind, mich nicht überzeugt haben, so T)in ich doch weit davon entfernt, den aufklärenden Fortschritt der in den lie- züglichen Untersuchungen Kekule's liegt, nicht in aller gebührenden Bedeutung zu Avürdigen. „Man hat öfter das Vorhandensein eines Zier- formenschatzes angenommen, AA^elcher freilich vorAAiegend technischi'U Ursprunges sei und hauptsächlich auf die Technik der Weberei, chvu- falls auch auf die des Flechtens und Stickens zurückAveise. Dazu kommt dann die Bronzetechnik und aus diesen A-erschiedeneii Tccliiiikcn entsteht eine verAvirrende Zahl einzelner Ornamente und Ornament- systeme, Avelche als Erbtheil einzelner Volksstämme oder irgendAvie sonst nach und nach zu einem abstrakten Formenschatz zusannnen- getragen Averden und zu beliebiger A'crAvciulung bereitstellen. Dieser abstrakte Formenschatz soll dann ganz äusserlich nach Belieben auf den Überzug der Tliongefässe üb(>rtragen Avorden sein." Di«^ Verur- tlieilung der /waiizigjiilirigcn Teclmikciijagd, die in diesen AVurten Kekules liegt, bedeutet den namhaftesten Fortschritt auf diesem Gebiete der klassischen Archäologie, der seit dem Tage gemacht Avorden ist, da Conze uns über die Bedeutung der „geometrisclien'' Klasse unter den frühgriechischen Vasen zum erstenmale aufgekl.iit li.ii.
Es bleibt noch die Frage zu beantAvorten, wanini denn gerade an den Produkten der textilen Teclmiken, der Fh'cliterei und der AVeberei, das bloss geometrische Mn>^trr. (Ijc lincircii \'ei-/iei'iinM('ii sieh so h.Mrt-
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nackig-, bis auf den lieutigen Tag, erhalten haben. ZAveifellos weil diese Muster den textilen Teclniilven am besten entsprechen, oder besser gesagt, weil es diesen Techniken schwerer als anderen fällt, über die eckig gebrochenen linearen Muster hinauszugehen. Dass es nament- lich in der Weberei schliesslich doch gelungen ist, leidlich abgerun- dete Configurationen zu Stande zu bringen, ist bekannt: das mensch- liche Kunstwollen erscheint el)en von Anbeginn unablässig darauf gerichtet die technischen Schranken zu brechen. Aber daneben blieb, namentlich für geringere Waare das mit leichterer Mühe zu erreichende geometrische Muster fortdauernd in Gebrauch. Man nehme nur die spätantiken Wirkereien aus Egypten. Es giebt keine Rundung die man daran nicht ausgeführt fände, aber in Säumen und einfacheren Bordüren, also an Theilen, die nicht in's Auge fallen, sondern nur zur Trennung oder neutralen Einfassung dienen sollten, begegnen uns fortwährend die Gamma- Tau- und anderweitige geometrische Muster, gewiss nicht infolge einer Reminiscenz an einstige textile Urmotive, sondern weil es eben die am leichtesten und einfachsten darstellljaren ^lotive waren.
Die „geometrischen" Motive, soweit sie geradlinig nach den Regeln des Rhythmus und der Symmetrie zusammengesetzt sind, erscheinen in der That einer mit einfachen Mitteln arbeitenden Textilkunst als die angemessensten. Daraus folgt aber bei weitem noch nicht, dass die be- treffenden Muster ursprünglich nur einer textilen Technik eigenthüm- lich und von dieser sozusagen geboren waren. Niemand vermag heute zu sagen, ob die ältesten Linienornamente, wie wir sie etwa auf den Geräthen der aquitanischen Höhlenl)ewohner vor Augen haben, zuerst in Knochen geritzt, in Holz- oder Fruchtschalen geschnitten oder in die Haut tätowirt Avorden sind.
Entgegen der bisherigen Anschauung vermag ich gar nichts so Unnatürliches darin zu erblicken, dass auf die flguralen Schnitzereien und Gravirungen der Steinzeit die geometrischen Verzierungen der sogen. Bronzezeit gefolgt sein sollen'-). Nachdem man einmal zur Kenntniss der
'2) Einen analogen Vorgang- glaubt Hjalmar Stolpe in der Ornamentik gewisser polynesischer Inselvölker festgestellt zu haben: zuerst Nachbildung- der menschlichen Figur in Holz mittels Kerbschnitts, zunehmende Stilisirung derselben, endlich Verwendung einzelner zu geometrischen Lineamenten ge- wordener Glieder dieser Figuren zur selbständigen Vervielfältigung und rhythmischen Reihung. Der bezügliche Aufsatz erschien zuerst in der Schwe- dischen Zeitschrift „Ymer" und in deutscher Uebersetzung in den Mittheil, der Wiener Anthropologischen Gesellsch. Jahrg. 1892 Heft 1 und 2. Der Vorgang Stolpe's, einzelne begrenzte ornamentale Gebiete zur Bearbeitung vorzunehmen
30 Der geometrische Stil.
Linie und zu plauimetrischen Combinationen derselben nach den Reg"eln von Rhythmus und Symmetrie gehängt war, Uisst sich ganz gut einsehen, warum man gerade diese zunächst mit überwiegender Vorliebe zur Flächenverzierung' verwendet hat. Diese Combinationen Avaren eben weit leichter 'hervorzubringen als Schattenrisse von Thier und Mensch. Für letztere Avar übrig:ens immer noch Platz im plastischen Kunstschaffen. Aber auf den zahlreichen, insbesondere keramischen Geräthen und Ge- tässen, deren eine steigende Civilisation bedurfte, mochte man sich gerne mit einfacheren, leichter darstellbaren Vcrzierung-en begnügt haben, und dies Avaren die geometrischen, Avie sie erst der ritzende Griffel und dann A'^ollends leicht der malende Pinsel auf die ThonA^asen brachte. Erst die nächste grosse Stufe der kunsthistorischen EntAAdcklung brachte den Menschen dazu, den geometrischen Stil zu Aderlässen oder doch auf die geAvöhnlichste Dutzendwaare zu beschränken. Diese nächste Stufe ist bekanntlich u. a. besonders charakterisirt durch das Aufkommen pflanzlicher OrnamentmotiA^e. Da ist es nun unter Hinblick auf das A-orhin Gesagte überaus lehrreich zu sehen, dass man sofort, nachdem einmal die Pflanze unter die Zierformen aufgenommen Avar, sich l>eeilt hat, dieselbe (Lotus!) zu geometrisiren, offenbar um der Vortlieile Avillen, die eine planimetrischc Gestaltung l)ei der technischen Durchführung und künstlerischen VcrAverthung mit sich brachte. Anscheinend noch früher als das Ptlanzenbild hat das Thier- (und Menschen-) Bild sicli eine gelegentliche Umsetzung in den geometrischen Stil gefallen lassen müssen. Dass diese Umsetzung keinesAvegs immer nur ein Produkt der Noth, ein Ausfluss der Ohnmacht, Besseres zu schaffen, gcAvesen ist, lehren zur Genüge die vorhin betrachteten Leistungen der Troglodyten, bei denen das Thier- Avie das Menschenbild unter unverkennbarem Be- streben, der realen Erscheinung in der Silhouette möglichst nahezu- kommen, entworfen ist. Die geometrischen Stilisirungen von .Mensch und Thier sind also Avohl ursprünglich bewusste Umsetzungen dieser Figuren in das lineare Schema gcAvesen, ebenso Avie die geometrischen Ornamente bcAvusste Combinationen der Linie nach den Gesetzen von Symmetrie und l>'liytlnnus. Darum ist es auch verfehlt, Avenn man — wie es häutig zu geschehen pflegt — geometrisirte figürliche Dar-
und die grossen universale» Fragen vorlilulig ruhen zu lassen, schehit mir auf ctlinograi»hischeni Gebiete, avo bisher nur wenig und ziemlich systemlos in Dingen, die die Kunst betreffen, gearbeitet wurde, der einzig richtige. Seine in dem citirten Aufsatze niedergelegten Forschungsergebnisse erscheinen mir daher auch sehr beachtensAverth.
Der g-eometrische Stil. 31
Stellungen gleich denjenigen auf den Dipylonvasen oder auf gewissen Kunsterzeugnissen der Naturvölker, ohne weiteres als rudimentäre Überbleibsel eines vermeintlichen geometrischen (textil-technischen) Urstils erklärt. Die geometrisirten animalischen Figuren sind vielmehr nicht minder wie die rein geometrischen Configurationen das Ergebniss eines keineswegs mehr primitiven, sondern bereits eines über die erste Stufe hinaus fortgeschrittenen künstlerischen Entwicklungsprocesses.
Ein doppelt vorgeschrittenes Stadium der Entwicklung muss vor- ausgesetzt werden für den Augenblick, da man anscheinend geometri- sche Configurationen bereits zu symbolischen Zwecken verwendete. Bei dem sinnlichen Charakter aller primitiven Xatiirreligiouen darf mit Gewissheit angenommen werden , dass mit jenen Symbolen (z. B. mit dem Hakenkreuz) ursprünglich die Vorstellung eines vorbildlichen realen Xaturwesens verknüpft gewesen ist. Die Geometrisii'ung der in der Kunst nachgebildeten Naturformen muss daher schon zeitlich vor- aufgegangen sein. In diesem Lichte betrachtet, mag der Symbolismus ursprünglich nichts anderes gewesen sein als der Fetischismus: während aber die Objekte dieses letzteren entweder selbst reale Xaturformen sind, oder, wenn im todten Material gebildet, den Bezug auf reale Naturformen noch deutlich erkennen lassen, erscheint an den Sym- bolen die letztere Bezugnahme sehr häufig durch die geometrische Stilisirung bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Es ist deshalb eine der schwierigsten Aufgaben, die Grenzen zwischen Ornament und Symbol auseinander zu halten; nach dieser — bisher wenig und fast aus- schliesslich vom Dilettantismus verfolgten — Richtung steht dem mensch- lichen Scharfsinn noch ein überreiches Feld zur Bebauung offen, von dem es heute sehr zweifelhaft scheint, ob es jemals gelingen wird, das- selbe in halbwegs befriedigender Weise zu bestellen'^).
Nach dieser Digression in die dunkle Zwischenzeit, die zwischen der Erschaffung der geometrischen Verzierungsformen (Kunststufe der Troglodyten) und zwischen der raämüten Verwendung dieser Formen in den vorgriechischen Stilen liegt, kehren wir wieder zu unserem Hauptgegenstande zurück. Was also die beiden bisher in allgemeiner Geltung gestandenen Lehrsätze vom geometrischen Stil betrifft, so können wii' den zweiten, der die Motive dieses Stüs wenigstens zum überwiegenden Theile aus den textilen Techniken des Flechtens und
'^) Beachtenswerthe Anläufe hiezu erscheinen u. a. gemacht in der Schrift von A. R. Hein über „Mäander, Kreuze, Hakenkreuze und urmotivische Wir- belornamente in Amerika (Wien 1891).
32 Der geometrische Stil.
Webeiis auf rein zwecklicli-maturielleiu "Wege entstanden sein lässt, nnn nicht mein" gelten lassen. Ist aiier damit in der That so viel ver- loren V Für dasjenige, was im ^Menschen gemäss jenem Lehrsatze den Gefallen an den rhythmischen Fadenkrenzungen erweckt haben soll, so dass er dieselben demnächst in anderem Stoffe, ohne durch die Anfor- derungen des Zweckes dazu genöthigt zu sein, wiederholt liat, dafür giebt uns jene nunmehr hoffentlich überwundene Theorie doch keine Erklärung. Die ganze Theorie erscheint hienach bloss als Glied der materialistischen "Weltanschauung, bestimmt die Ableitung einer der geistigen Lebensäusserungen des Menschen aus stofflich -materiellen Prämissen, um einen Schritt Aveitcr liinauf zu rücken. AYir Avollen diesen Schritt gar nicht thnn, um schliesslich eingestehen zu müssen, dass wir des Pudels Kern doch nicht zu erkennen vermögen. Wir sagen lieber gleich, dass jenes Etwas im Menschen, das uns am Formschönen Ge- fallen finden lässt, und das die Anhänger der technisch -materiellen Descendenztheorie der Künste ebensoAvenig wie wir zu detiniren im Stande sind, — dass jenes EtAvas die geometrischen Linienconilnuationen frei und selbständig erschaflfen hat, ohne erst ein materielles Zwischen- glied einzuschieben, das die Sache im letzten Grunde nicht heller machen kann und höchstens nur zu ciiuMn armseligen Scheinerfolg der materialistischen "Weltanschauung füliren würde.
Xoch drängt es mich, um jedwedes Missverständniss zu vermeiden, ausdrücklich zu Aviederholen, Avas ich schon mehrfach angedeutet hal)e: dass ich Gottfried Semper keinesAvegs dafür verantAvortlich machen möchte, dass man seine "\^"()rte in der erörterten LMchtung interpretirt und Aveiter entAAÜckelt hat. Semper handelte es sich keinesAAU'gs darum, eine möglichst materielle Erklärung für die frühesten Kunst- äusserungen des Menschen zu finden; es Avar seine Lieblingstheorie vom BekleidungSAvesen als Ursprung aller l^aukunst, di«' ilni dazu ge- führt hat, der Textilkunst unter allen übrigen Künsten i'ine b'olle zu- zuweisen. Avie sie ilu" besonnenermaassen nicht mehr Aviivl eingeräumt Averden dürfeu. Auf dem angedeuteten Wege gelangte Semper dazu, geAvisse textile Begriffe und ästhetische Unterscheidungen wie Band und Decke, die erst einer vorgeschritteueren , ratt'inirteren Zeit des Kunstschaffens angehören können, an!' piiniitiAc Knnstzustände anzu- wenden. \'(<]\ <ler Cberseliiitznng dei- Textilkunst in Seniper"s Stil Averden Avir daher gründlich zurückkommen müssen; nichtsdestuAveniger bleibt jede Seite, auf der er sicJi über dieses Thema äussert, auch für- derliin noch lesenswerth, wo nicht klassisch.
II. Der Wappenstil.
Die übliche Identificirung der Textilornamentilc mit Flächeiiorna- mentik im Allgemeinen hat eine weitere Reihe von Irrthümern zur Folge gehabt. Einer der anspruchvollsten darunter, der noch heute in unbeschränktem Ansehen steht, betrifft jenes System der Ornamentik, dem eine paarweise Gruppirung unter symmetrischer Gegenüberstellung (Affrontirung bezw. Adossirung) zu Grunde liegt.
Auf Ernst Curtius') geht die Unterscheidung zwischen einem Teppichstil und einem Wappenstil zurück. Den Teppichstil erblickt Cur- tius in jener Art von Flächenverzierung, wo z. B. Thiere in regel- mässiger Reihenfolge, und zwar mehrere solcher Thierreihen in Zonen übereinander angeordnet sind. Den Wappenstil bezeichnen ihm dagegen die paarweise gruppirten Thiere, zu beiden Seiten eines trennenden Mittels symmetrisch einander gegenübergestellt.
Was Cm-tius Teppichstil nennt, das hat weder mit der Textilkunst im Allgemeinen, noch mit den Teppichen im Besonderen etwas Wesent- liches zu thun. Hatte man nämlich eine Fläche überhaupt (nicht l)loss eine textile) zu verzieren, so lag es am nächsten, den Raum in der Weise zu brechen, dass man denselben in einzelne horizontale Streifen zerlegte und innerhalb dieser Streifen die Einzelornamente unter- brachte. Eine solche Streifendekoration begegnet uns auf historischem Boden bereits bei den Altegyptern (Reihen figuraler Scenen überein- ander an den Grabwänden), bei den Assyrern^), aber auch später in den reifsten Stilen immer wieder 3). Um diese Art der Dekoration mit
1) Abh. der Berl. Akad. 1874.
-) Z. B. bei Layard Ninive I. 23 unten am Gewände der äussevsten Figur rechts, mit rein geometrischen Einzelmotiven.
=*) Nach Schreiber (Wiener BrunnenreUefs S. 84) ist die „Streilendeko- ration" auch in der hellenistischen Dekorationskunst sehr maassgebend ge- wesen .
Riegl, StiltVageD. "
34 Der Wappenstil.
Berechtigung' als Teppicbstil zu bezeichnen, müsste man erst nach- weisen, dass sie zuerst auf Teppichen angcAvendet worden ist. Lässt man aber g-emäss unseren Ausführungen im 1. Capitel den gänzlicli unbewiesenen aprioristischen Lehrsatz fallen, wonach die ältesten Flächenverzierungen auf textilem Gebiete zu Stande gekommen sein müssten, so kann man heute eine Geschichte der Flächenornamentik schreil)en. in welcher den einzelnen Zweigen der Textilkunst kein be- deutsamerer Platz eingeräumt ist, als etwa der Wandmalerei, der Gra- virung und Emaillirung u. s. w. Wir könnten daher die Sireifendeko- ration mit ebenso gutem, wahrscheinlich aber mit besserem Rechte als Sehnitzereistil oder Gravirstil bezeichnen, weil der Mensch mittels dieser Techniken gewiss mindestens ebenso früh Ijereits Flächen ver- ziert hat, als er dies mittels der Teppichweberei gethan haben kann. Was dagegen die symmetrische Gruppirung von je zwei Thieren u. dgl. um ein gemeinsames ^Mittel anbelangt, so lässt sieh ('urtius^) hierüber vernehmen, er sei durch sassanidische Gewebe dazu gelangt, auch diesen Wappenatil nicht minder wie den Teppichstil auf die Webe- kunst zm'ückzuf Uhren. Den Beweis dafür erblickt er darin, dass auch der Buntwirker (worunter offenbar der Kunstweber gemeint ist) aus technischen Gründen eine öftere Wiederholung des Musters braucht und anderseits die Fläche möglichst auszufüllen trachtet, um an der Rückseite keine langen Fäden flott liegen zu lassen, und auch die kost- baren Einschlagfäden möglichst nach vorne zu bringen. In ganz ähn- licher Weise finde man aber an orientalisirenden Thonwaaren und Metallarbeiten frühgriechischer Herkunft einerseits die wappenartige
*) In den Abb. der Berl. Akad. 1879 S. 23. — Der verehrte Nestor der an g-länzenden Vertretern und Erfolg-en so reiclien Berliner archäologischen Schule möge verzeihen, wenn ich mich hier auf Abhandlungen beziehe, deren Verfassung- nun schon eine beträchtliche Reihe von Jahren zurückliegt, und die heute vielleicht nicht einmal mehr seinen eigenen Anschauungen völlig entsprechen. Aber dieselben haben, wie die seitherige Literatur lehrt, in der klassischen Archäologie allenthalben Schule gemacht, und so bleibt mir nichts anderes übrig , als mich auf denjenigen Autor zu beziehen , der die Sache zuerst vor die Öffentlichkeit gebracht hat. Übrigens wird Jeder aus dem Context meiner Ausführungen in diesem und dem vorigen Capitel entnehmen, Avie ich von der Einsicht durchdnnigen lün, dass u. a. auch die von Curtius aufgestellte Lehre vom Teppichstil und Wapi)enstil im allgemeinen Zuge der Zeit begründet war, und dass es dem so vielbewährteu Forscher unter diesem Hinblick nur zum Verdienst angerechnet werden kann , dass er einmal die vollen Consequeiizen gezogen hat , da man nur auf diesem Wege zu einer weiteren Klärung der Anschauungen gelangen konnte.
Der Wappenstil.
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Anordnung' der Hauptmotive, anderseits den Grund naeli Mög-liclikeit ausgiebig' mit Mustern gefüllt.
Da nun diese wappenartigc Ornamentik sich besonders häutig an Werken der assyrischen Kunst (Fig. 4)-'') vorfindet, und die früh- griechische Kunst nachweisbar vielfach unter orientalischen Einflüssen gestanden ist, so ergeben sich daraus unschwer die Schlüsse, welche die klassische Archäologie aus der Curtius'schen Hypothese nothwendiger- maassen gezogen hat. Einer ihrer namhafteren und auch mit den alt- orientalischen Verhältnissen bestvertrauten Vertreter hat noch vor Kurzem die diesbezüglich herrschende Lehrmeinung- in folgende Worte zusammengefasst : „Die Bildertyi>ik des Orients hängt zum grössten Theile von den Gewebemustern der grossen Wandtapeten ab, und
Fig. 4. Skulpirter assyrischer Fries mit geflügelten Stieren im Wappenstil.
manche stilistische Eigenheiten ihrer Plastik, z. B. die übermässige Kon- turirung der Muskeln, findet darin am natürlichsten ihre Erklärung^)." Auch diesem Lehrsatze gegenüber werden wir die Frage aufwerfen müssen, ob sich derselbe historisch rechtfertigen lässt, und ob für die ihm zu Grunde liegenden Erscheinungen nicht eine andere Erklärung gegeben werden kann.
Woher wissen Avir, dass die Assyrer bereits eine Kunstweberei gekannt hätten, die im Stande gewesen wäre Stoffe mit Thierpaaren im Wappenstil zu mustern V Und zwar handelt es sich hier um eine „Kunst- ■^veberei" im vollen Sinne des Wortes, — um eine Weberei, die mittels Schiff"chens im Stande ist, auf Grundlage einer vollkommenen Beherr-
^) Nach Layard, The monu.inents of Ninive Taf. 45. ^) Schreiber, Wiener Brunnenreliefs 37.
3*
36 ^^1" ^Vappenstil.
schung der freien Bindung-en, beliebig konturirte Fig-iiren wiederzugeben: denn nur eine solche bis zu einem geAvisscn Grade mechanische Art der Weberei bedarf der symmetrischen Wiederliolung- der einzelnen Figui-en, Avie sie Curtius') ganz richtig an den sassanidischen Seiden- stoffen beobachtet hat.
Curtius" Vermuthung hiusiohtlicli der Assyrer stützt sich auf die "Wahrnehmung, dass auf den in Steinrelief dargestellten Gewändern einiger Könige, insbesondere des Assurnasirpal zu Ximrud. sich Bor- düren finden, in denen die wappenartigen Gruppen von paarweisen Thieren (Fig. 4), Menschen, Fabelwesen sich fortAvährend Aviederholen, nach einem Schema wie es in der That auch an sassanidischen Seiden- stoffen zu sehen ist. Curtius glaubte daraus sofort auf Seiden -Kunst- webereien, als unmittelbare autochthone "Vorbilder schliessen zu dürfen. Semper, der diese wandverkleidenden Eeliefs der assyrischen Künigs- paläste gleichfalls mit steinernen Tapeten identificirt hat, drückte sicli aber in Bezug auf die technische Erklärung der im "Wappenstil gehal- tenen Thiere weit vorsichtiger aus. Als Teclniiker mochte er wahr- scheinlich das Gewagte einer Behauptung Avie derjenigen Curtius' ein- gesehen haben; er erblickte darin nicht Kunstwebereien, sondern Stickereien^), Avas an und für sich viel mehr "Wahrscheinlichkeit bean- spruchen darf, da die technische Ausführung in diesem Falle Aveit ge- ringere SchAAaerigkeiten bereitet hätte.
Die Hypothese von der Entstehung des "Wappenstils aus einer alt- assyrischen Kunstweberei wird aber noch unhaltbarer, sobald Avir das- jenige in Betracht ziehen, Avas Avir in den letzten Jahren über das "Wesen der Textilkunst im Altertlium in Ertahrung gebracht haben. Als die Aveilaus maassgebendste Technik hat sich die Wirkerei (Gobelin- technik) herausgestellt''). Gewirkte Einsätze mit Figuren in genau der- selben Avappenartigen Symmetrie, aber von klassischer Formgebung, sind unter den egyptischen Gräberfunden aus spätantiker und früh- mittelaUerliclier Zeit (Fig. 5) zalilreicli an den Tag gekommen. Da- gegen befand sich die Seidenknnsl Weberei denselben Funden zufolge in spätantiker Zeit noch auf einer ziemlich niedrigen Stufe der Ent- Avicklung. EssenAvein berichtet über einen der in's Germanische Museum gelangten spätantiken Seidenstoffe folgendermaassen : „Man sieht deut-
^) Wi(! icli erfaliro, unter A. Pahst's (Cölni kuiKliy-ei' Anlcitinit;". ") Stil I. '61h.
^) In dieser Tcclniik sind aucli aller Walirsclieiiiliclikcit nach die wappeu- artigen Thiere auf den assyrischen KönigsgcAvälndern ausgeführt gcAvcscn.
Der Wappenstil. 37
lieh, dass der Weber jeden Faden einzeln zwischen die Kettfäden ge- schlungen und möchte fast meinen, es sei dies eher mit der Nadel als mit dem Schiffchen geschehen. Wenn man so etwa mehr Handarbeit als Fabrikation in der Herstellung der Gewebe erkennt, ward man auch über die vielen Unregelmässigkeiten nicht erstaunt sein." Es war eben noch nicht so lange her, dass die Seide ausserhalb der ostasiatischen Kulturwelt verarbeitet wurde; keinesfalls reichen unsere Nachrichten darüber in die Zeiten der altorientalischen Monarchien zurück. Ein ununterbrochener technischer Zusammenhang zwischen einer vermeint- lichen altassyrischen und der nachweisbaren sassanidischen Seidenkunst- weberei lässt sich somit nicht herstellen; nach stilhistorischer Seite liegt aber dazwischen die Ausbreitung der hellenistischen und römischen Antike, die — allerdings unter unmittelbarer Berührung mit den alt- orientalischen Künsten entstanden und herangebildet — ihrerseits wieder insbesondere die Luxuskünste im Oriente durchaus in ihre Einfluss- sphäre zu ziehen gewusst hat.
Das Princip des Wappen sti Is , die absolute Symmetrie hat in der späten Antike überhaupt eine sehr maassgebende Rolle gespielt, Avas vielleicht mit der sinkenden Schaffenskraft im Kunstleben dieser Zeit zusammenhängt, da die hellenistische Kunst noch die relative Symmetrie in der Dekoration beobachtete, und die Langweiligkeit der absoluten Symmetrie nach Möglichkeit vermied. Es ist daher nicht recht zu ver- stehen, warum uns das wappenartige Ornamentationssystem der sassa- nidischen Seidenstoffe so fremdartig asiatisch, so ganz und gar nicht- abendländisch erscheinen soll. Wenn die Beherrschung der Anfangs so schwierigen Technik der Kunstweberei bereits am Ausgange der Antike rasche Fortschritte gemacht zu haben scheint, so ist dies wohl aus der zwingenden Nothwendigkeit zu erklären, die man empfunden haben musste, für das eben zur vorherrschenden Geltung gelangte neue Rohmaterial, die Seide, auch die passendste Technik auszubilden, wofür sich aus anderwärts '°) von mir erörterten Gründen die antike Wirkerei durchaus nicht empfahl. Für die Seidenkunstweberei hatte nun das zur damaligen Zeit wieder allgemein verbreitete Ornamentationssystem des Wappenstih allerdings jene grossen Vorzüge, auf die auch Curtius hingewiesen hat, und wohl aus diesem Grunde, nicht einer vermeint- lichen assyrischen Textilüberlieferung halber, finden wir das genannte Dekorationsschema an den Seidenstoffen von spätantiker Zeit (Fig. 5) an
'") Bei Bucher, Geschichte der technischen Künste III. 361 f.
38 Der Wai)penstil.
bis in das gothiscbo Mittelalter iu überwiegendstem Maasse zur Anwen- dung" gebracht. Nicht die Technik hat das Scliema geschaffen, son- dern sie hat das bereits vorhandene als das ihr zusagendste über- nommen und im Besonderen für ihre Zwecke weitergebildet.
Mit Rücksicht auf die schon früher hervorgehobene Bedeutung-, welche die egyptisch-spätantiken Textilfunde für die Erklärung der
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l'ig 5. Hewirktcr (icwandcinsatz ans einem Orabc bei Snkkarah (.Kgypten), spütaiitik.
^Val)p(•IlstiI-Frage liaben, crschcini hi<'ii<l)cii in l-ig. .'> <iii l)laftf(»rmig('r ri«-wand»-iii.satz aus der in das k. k. .istnrricliisrlic Miixinu für Kunst lind Iii'histrio gelangten Saininhing"i jtiKr l'undr \\ ii-dergegeben.
") K.-italof,' dieser Sainnilmi;;- No. HC. Das Stück i.st aucii (hnch seinen Inhalt bemerkenswerth, da es eines drr überaus seltenen Bcisitiflc vom Nach- beben altegyptisch-nationaler Kunstfornicn im spHtcren Alterllnnn liictet.
Der Wappenstil. 39
Das Muster ist fast in allem Wesentlichen symmetrisch angeordnet: die Figuren in der oberen Hälfte zu beiden Seiten einer trennenden drei- blättrigen Blume, darunter die zwei Xaclien mit je zwei Fischern, so- wie die Fische und Blattpflanzen im W'asser. Und doch war durch die Technik, in welcher dieser Einsatz gearbeitet ist, keine Veranlas- sung gegeben zu solcli symmetrischer Gestaltung. Wie schon die an der Abbildung deutlich wahrnehmbare Ripsbindung verräth, handelte es sich hiebei nicht um eine Seidenkunstweberei, die ein Interesse daran gehabt hätte, die gleichen Tritte und Schäfte bald wiederkehren zu sehen, sondern um eine höchst einfache Handwirkerei, die auf keine technischen Abkürzungen ausgeht, weil sie dieselben gar nicht brauchen kann. Die symmetrische Kunstform als solche wav also gegeben und in der Textiltechnik angewendet, nicht umgekehrt. Symmetrisch ver- zierte Einsätze in Wirkerei sind auch sonst nicht selten unter den ge- nannten Funden'^).
Was zwingt uns denn überhaupt, das Verhältniss umzukehren und mit Curtius und Anderen den Wappenstil aus der Technik der Kunst Weberei abzuleiten? Das dem Schema zu Grunde liegende Ge- setz der Symmetrie war doch den Menschen längst bekannt und von ihnen im Kunstschaffen beobachtet, bevor die Assyrer ihre grosse orientalische Monarchie aufgerichtet haben. W^ie Avir im vorigen Capitel gesehen haben, übten es bereits die Troglodyten; der ganze geometrische Stil ist nichts anderes als abstrakter Rhythmus und abstrakte Symme- trie. Sobald die Pflanze in die Ornamentik eingeführt wird, geht das ganze Bestreben daliin ihre Erscheinung symmetrisch zu gestalten. Als Resultat dieses Bestrebens werden wir im folgenden Capitel die sym- metrische Seitenansicht im Lotus, die synmietrische Vollansicht in der Rosette, eine dritte Art der Projektion, die man etwa als halbe Voll- ansicht bezeichnen könnte, in der nicht minder symmetrischen Pal- mette kennen lernen. Wie steht es nun mit der symmetrischen Dar- stellung der animalischen Wesen? Die Vorderansicht ist zAvar bei Menschen und Thieren symmetrisch gestaltet, aber diese Vorderansicht ist für's Erste, wenigstens was die Thiere betrifft, die minder charak- teristische, dann bot ihre Wiedergabe in der Fläche dem primitiven Künstler wegen der obwaltenden Verkürzungen allzu viele Schwierig- keiten. Man wählte daher die charakteristischere und annähernd in einer Fläche verlaufende Seitenansicht, die aber der Symmetrie entbehrte. Um
^'^) Bucher, Gesch. der techn. Künste II, Fig. 356, 3.57.
4y Der Wappenstil.
nun die Thierfiguren in Seiteuansicht dennoch dekorativ '^j zu verwertheu, gab es zwei Wege. Entweder man liess die Symmetrie ganz fallen und reihte die Thiere bloss rhythmisch hinter einander — dies geschah in dem von Curtius sogenannten Teppiehstil — , oder mau nahm die Thiere paarweise und stellte sie in absoluter Symmetrie einander gegenüber, und zwar womöglich zu beiden Seiten eines symmetrisch aufgebauten Mittels , wozu sich ein vegetabilisches Element am besten eignete. Auf diese Weise etwa, keineswegs aber aus einer gar nicht zu beweisenden Technik, werden wir uns die paanveisen assyrischen Bestien zu beiden Seiten des sogen, „heiligen Baumes" (Fig. 4) zu er- klären haben.
Die Symmetrie erweist sich eben als ein dem Menschen einge- borenes, immanentes Postulat alles dekorativen Kunstschaffens von An- beginn. Der Chinese kennt sie ebensogut wie der Altegypter, und nicht bloss im geometrischen Ornament, wiewohl man versucht hat, ihnen diese Kenntniss abzusprechen. So finden wir z. B. zwei Böcke um einen Baum symmetrisch gruppirt bereits im Alton Reiche unter der G. Dynastie'^}, also mehr als tausend Jahre vor der Entstehung der assyrischen Königspaläste. Dass Altegypter wie Chinesen über eine be- scheidene Beobachtung der Spnmetrie in der figürlichen Composition nicht hinausgekommen sind, mag vielleicht in dem anscheinend frühen Reifen und Sichabschliessen, und dem hierauf erfolgten relativen Still- stehen ihrer uralten Kulturen begründet sein. Ein Volk, das auf den Errungenschaften eines anderen unter frischen Impulsen weiter zu bauen in der Lage war, hat die künstlerische Bedeutsamkeit der Sjtu- metrie sofort schärfer erfasst: so sehen wir sie eben l)ei den Assyrern l)eobachtet, die aucli den Unterschied zwischen Decke und Band, Fül- lung und Bordüre, Inhalt und Rahmen, wie es scheint zuerst nicht bloss deutlich begriffen, sondern auch zu unbedingter praktischer Gel- tung gebraclit haben; h-ider vermögen wir mit den heutigen Mitteln niclit zu beurtheilen, welcher Antheil hiervon auf ilire älteren Stam- me'Sgenosscn, die Chaldäer, entfallt. Bedarf es da erst der Kunst- weberf'j, um zu erkhiren, wie dieses Volk zur Übung des symmetrischen Wappfnstils gelangt ist?
•'V Nicht mit lUrscriptiv - f;;cgcnstiin(ilichcr l'cdi'iitiui^- , wie etwa die Heeiden auf altcg'yptisclieii Orabreliefs.
",; Lepsiiis r)<'iil<in:ller IV. Taf. lOS, 111.
III.
Die Anfänge des Pflanzenornaments und die Entwicklung der ornamentalen Ranke.
Es ist heute schwer zu entscheiden, Avelches von den beiden orga- nischen Bereichen der Xatur, das animalische oder das vegetabilische, dem Menschen bei seinen ersten Versuchen, bestimmte körperliche Er- scheinungen aus seiner Umgebung zeichnend auf einer Fläche zu repro- duciren, grössere SchAvierigkeiten bereitet hat. Die Pflanze hat diesbe- züglich vor den Thieren den Vortheil voraus, dass ihre Theile, wenigstens für den naiven Beschauer, scheinbar in absoluter Euhe verharren, wo- durch es dem Menschen leichter geworden sein könnte, ein typisches Bild von den Pflanzen zu gewinnen, als von den ihre Haltung und Lage beständig verändernden Thieren. Aber ebensowenig wie bei den Thieren, insbesondere bei den der Aufmerksamkeit des Menschen zunächst ge- rückten Vierfüsslern, liegen bei den Pflanzen alle ihre Theile in einer und derselben Fläche. Es musste also auch bei der Eeproduktion der Pflanzen eine Stilisirung Platz greifen, sobald der Mensch dieselben auf eine gegebene Fläche (Stein, Bein, Thon) zeichnen oder gravh'en wollte. Dies äussert sich an den frühesten, uns bisher bekannt gewor- denen Pflanzendarstellungen namentlich in der symmetrischen Abzwei- gung der Seitensprösslinge rechts und links vom gerade emporstrebenden Schaft, während in der Natur die Zweige strahlenförmig um den Stamm herum angeordnet sind, ferner in der Darstellung der Blätter als wären sie von oben gesehen, Avährend dieselben dem seitwärts gedachten Be- schauer mehr oder minder das Profil zukehren. Diese Flach-Stilisirung blieb so lange in Kraft, bis allmälig die perspektivische Darstellung, aufkam, vermittels welcher man sich in Stand gesetzt sah, körperliche Erscheinungen mit sämmtlichen Merkmalen ihrer räumlichen Abstufung und Ausdehnung auf eine ebene Fläche zu bringen.
42
Die Antaiio-e des Priauzeiiornameiits etc.
Soviel aber die l^i^lle^ geiiuicliteii i'iinde aus präliistoriselier Zeit erkennen lassen, hat sich der Mensch — entgegen dem ErAvarten, das Avir an das oben Gesagte zu knüpfen bt'rechtigt Avären — früher in der Nachbildnng von Thieren als in derjenigen von Pflanzen versucht. So hat man atif den in den Höhlen der Dordogne gefundenen skulpirten Rennthierknochen. neben der so stattlielien An/.ahl aniiualisclier Bild- werke, bloss ein einziges Mal (Fig. 6) ^lotive gefunden, die man um ihrer rosettenartigeu Form willen für die Copie einer Blume halten könnte'). Almliche Beobachtungen hat man auf dem Ge- biete der Ethnologie der heutigen Naturvölker gemacht. Überall geht das geometrische Ornament und das Thier- l)ild der Darstellung von Pflanzen voraus. Ganze, ver- liältnissmässig hoch ausgel)ildete Ornamentiken, wie z. B. die inkaperuanische, sclieinen des Pflanzenbildes voll- ständig zit entbehren. Die Erklärung diest'r Erscheinung werden wir wühl in dem Umstände zu suchen haben, dass die bewegliche, scheinbar mit freiem AVillen ausge- stattete Thierwelt in weit höherem Grade als die Pflan- zenwelt die Aufmerksamkeit des Menschen erregt haben niociit"'. Thiere und iiielit rilauzen spielen im Fetiscliis- mus die Hauptrolle, Avi(' nocii die altegyi>ische (Jötter- inythologie in ihren den Thierkult l)etrei1'eiiden rudimen- tären Theilen deutlicli lieweist. Und ähnlich ist ja das Verhältniss des Menschen zti Tliier und l'flanze in der Kunst allezeit auch späterhin gebliel>en. Die perspekti- vische Durchbildung Avurde früher an .Menschen und Thieren, als an den Pflanzen erprobt, die Blume blieV) am längsten ,.Flachornament" und die „LaiulschalV ist weit später nicht bloss als die religiöse und Historien- malerei, sondern auch als Porträt und Genre. Es ist also Avohl ein- mal «las gerimii'i'e lnter<'sse, «las dei" Mensch an der scheinbar be-
W
Fig. 6.
Rennthierknochen
mit gravirten
Blumen (?j.
I..1 >fa<tclcinc.
'j Wäre niciit die angesichts der Zeit- und Kultuj iniistämtc \ ('rl)liilVciule Leistungsfähigkeit der Troglodytenkunst, so dürfte mau nucli auf die Schwie- rigkeit hinweisen , die das Nacldnlden der i'eicli gf;^liederten Pflanzen in Skulptur gcfccnüber den weit minder gc^^liedcrtcn Thievkörpern mit sich brachte. Die älteste Kmisttechnik war aber gemäss unseren Ausführungen im ersten (.'apitel S. 20 die Skuljdur. I'.ildete diese nun Tliierliguren, so konnte di«'s imm(;rliin auf die nachfolgenden, in dei- Plüclie bildenden Künste bereits von traditioneller, also das PlL-inzcnipild zuniidist ausscliliessender AVirktni^- sein.
Die Antangc des PHanzeiioniameiits etc. 43
wegungslosen Pflanzenwelt nahm, wodurch wir uns die spätere Ein- führung' der Pflanze in die bildende Kunst hauptsächlich zu erklären haben werden.
Eine weitere Frage, die sich sofort beim Beginne dieses Capitols aufdrängt, lautet dahin, ob die ältesten Kunstdarstellungen vegetabi- lischen Inhalts als Ornamente gedacht waren oder ob dieselben um einer ihnen innewohnenden gegenständlichen (hieratischen, symbolischen) Bedeutung willen zur Ausführung gelangt sind? Letztere Annahme würde zur Voraussetzung liaben, dass wir für den Menschen, der zuerst Pflanzenformen nachgebildet hat, eine vorgeschrittenere Kulturstufe an- nehmen müssten, — eine Kulturstufe, welche über das blosse elemen- tare Bedürfniss des Schmückens (S. 22) in der Kunst bereits wesentlich hinausgekommen Avar. Und in der That, wenn wir erwägen, dass überall dort, A\'o wir einen zwar alterthümlichen, aber fertigen und geschlossenen Kulturzustand näher kennen gelernt haben, bildende Kunst und Re- ligion augenscheinlich in engsten Wechselbeziehungen zu einander ge- standen sind, werden Avir von einem gewissen, freilich nielit mehr näher zu bestimmenden Zeitpunkte au, den Anstoss zu Aveiteren Versuchen in einer Avahrhaft „bildenden", d. h. körperliche Naturerscheinungen nach- empfindenden und wiedergebenden Kunst, nicht mehr allein auf einen immanenten Schmückungs- und plastisch -imitativen Gestaltungstrieb, (wie bei den a(iuitanischen Troglodyten?), sondern auch ganz Avesentlich auf religiöse d. h. gegenständliche BcAveggründe zurückführen dürfen. Die ältesten Darstellungen vegetabilischer Motive, die Avir heute kennen, finden sich auf Kunstwerken aus der Zeit des Alten Reiches von Egypten. Bei dem eminent gegenständlichen Charakter, Avelcher aller altegyptischen Kunst und insbesondere derjenigen, die uns in den Gräbern aus dem Alten Reiche entgegentritt, eigen gcAvesen ist, Averden Avir auch die bezüglichen Pflanzendarstellungen nicht als blosse Ornamente, sondern als religiöse Symbole aufzufassen haben. Um ihrer selbst Avillen dürften Avir die- selben somit in dem Capitel über das Pflanzenornament unberück- sichtigt lassen. Wenn Avir trotzdem die Betrachtung der altegyptischen Pflanzenmotive zum Ausgangspunkte unserer gesammten Darstellung machen, so geschieht dies um der nachfolgenden rein ornamentalen Ent- Avickluug willen, die sich nachAveislich an diese Motive geknüpft hat.
Jedes religiöse Symliol trägt in sich die Prädestination, um im Laufe der Zeit zu einem vorwiegend oder lediglich dekorativen Motive zu Averden, sobald es nur die künstlerische Eignung dazu besitzt. Die fortgesetzte überaus häufige AuAvendung, die infolge ihrer Heiligung
44 Die Anfänge des Pflanzenornaments etc.
stereotyp geAvordene äussere Form, die -Vustuliruiiii' in verschiedenen ^laterialien, alles dies trägt dazu bei, das betreffende Symbol dem Mensehen vertraut und dessen Anblick bis zu einem gewissen Grade unentbehrlich zu machen. Der naive Glaul)t' der Alton kam diesem Process ganz besonders zu Hilfe. Mau trug das Symbol auf den Kleidern, den Geräthen, überliaui>t auf Dingen, die Einem möglichst oft zu Gesichte kamen. Es gal) fast keinen Gegenstand im Haushalte der alten Egypter, an dem sie nicht den Lotus angebracht hätten. Die- jenigen Völker, die die Symbole von den Egyptern übernahmen, Avaren in ihrer Anschauung von denselben — nach dem freien Gebrauche, den sie in der Regel davon gemacht haben, zu seiiliessen — nicht mehr von den gleichen hieratisclien Vorstellungen befangen. Die symbolische Bedeutung des Lotus lockert sich zusehends bei Assyrern, Phönikern, Griechen; die Summe der ganzen Entwicklung erscheint gezogen in der hellenistisch-römischen Kunst, deren dekorativer Apparat zum aller- grössten Theile im letzten Grunde von dem altorientalischen Symbo- lismus bestritten ist. Nur haben die Griechen aus diesem letzteren mit ihrem vollendeten Sinn für das Kunstschöne bloss jene Motive ausge- wählt, die in der That einer küiistlerisehen Fortbildung und Ausge- staltung fähig waren-).
Dafür, dass die bezüglichen Pflanzenmotive wenigstens zum über- wiegenden Theile schon von Haus aus die Befähigung zu einer künst- lerischen Ausgestaltung an sich trugen, war von der altegyptischen Kunst selbst genügend vorgesorgt. Schon von Seiten dieser ersten pflanzenbildenden Kunst erhielten die pflanzlichen Vorbilder bei der Übertragung auf die Fläche (mittels des Relief en creux Avie mittels der Malerei) die nothwendig(,' Stilisirung. Das maassgebende Postulat bei dieser letzteren Avar Aviederum die Symmetrie. Das Motiv hatte zwar um seiner gegenständlichen Bedeutung AA'iJlen Darstellung gefunden, aber diese Darstellung sell)St erfolgte unter strenger Berücksichtigung derjenigen primitiven künstlerisclien Postulate, die schon dem rein deko- rati\''en, dfin bloss'^ii ['.idürfiiiss des Selimüekeiis dicin ndcn Kunstschaffen zu Grunde g< l<'g<ii Avan-n. Die Altegyi)t<'i" s<dl)si mussicn das künst- lerisch durchgebildete Symbol zugleich als Sclnuuck empi'unden liaben. Umsomehr die auf niedrig«ii r Kulturstufe a «iliaiTi udcu Völker, die im Lauf«- der Zeit mit difscu Sxiiiholiii lickniini wnrdru. Besassen die-
■-; So die Palinett(;ii, Spldiigi-n, Kentauren, nicht aber die tliieiliiiuptiyen Götter, die Skarabiien u. df;l.
Die Anfänge des Pflanzenornaments etc. 45
selben — wie wir annehmen dürfen — bis zu dem Zeitpunkte ilirer Berührung' mit der egyptischen Kultur kein eigenes vegetabilisches Schmuckmotiv, so lernten sie nunmehr eines kennen, das sie sich fürder entweder im Handel erwerben oder selbst kopirend nachbilden konnten. Aus der eigenen Flora ein Motiv sich mit Mühe heraus zu stilisiren, daran hat Avohl Niemand gedacht, sobald er ein fertiges Motiv von an- derer Seite her empfingt). Aus dem gleichen Grunde gebrauchen wir doch heute noch in unserer dekorativen Kunst überwiegend die über- lieferten antiken Motive, obzwar wir Ornamentzeichner und Entwerfer besitzen, Avie sie das Alterthum gar nicht gekannt hat*).
Die Altegypter haben, so viel wir sehen, zuerst eine monumentale Kunst ausgebildet, und für die übrigen Völker des Alterthums deren Geschichte parallel mit derjenigen des pharaonischen Egypten läuft, beginnt die Kunstgeschichte mit dem Momente, in dem sie in eine nähere Beziehung zur egyptischen Kunst getreten sind. Dieser Moment lässt sich zwar nicht in einem Falle genau zeitlich bestimmen; aber die Thatsache selbst lässt sich kaum mehr bestreiten, angesichts der fun- damentalen Verbreitung, welche gerade die typischen dekorativen Formen der egyptischen Kunst bei den übrigen ältesten Kulturvölkern des Alterthums gefunden haben. Damit ist auch die grundlegende Be- deutung, die Avir den altegyptischen Pflanzenmotiven für alle nach- folgende Pflanzenornamentik eim'äumen müssen, genügend charakterisirt.
Aus dem Gesagten folgt aber noch nicht, dass Avir alle durch die altegyptischen Denkmäler überlieferten Darstellungen vegetabilischen Inhalts in unsere Betrachtung Averden einbeziehen müssen. In der gegenständlichen egyptischen Kunst finden wir vielfach Nachbildungen von Pflanzen, namentlich A^on Bäumen (Tell-el-Amarna) , denen augen- scheinlich keine symbolische Bedeutung beigelegt wurde und an die sich daher auch keine ornamentale Fortbildung geknüpft hat. üeber- haupt ist es nicht so sehr die Pflanze als Ganzes, als Baum oder als
^) Man braucht also gar nicht, ^\ie Goodyear thut, einen religiösen Sym- bolismus, sei es den Sonnenkult oder einen anderen zu Hilfe zu rufen, um die Verbreitimg altegyptischer Kunstmotive in der ganzen frühantiken Welt zu erklären. Hierzu genügt allein schon der im Menschen allmächtige Trieb des Nachahmens, Nachbildens, Nachformens.
■*) Das bCAvusste Heranziehen der heimischen Flora zu dekorativen Zwecken ist ein echt moderner Zug, und charakterisirt in ganz besonderem Maasse die Art unseres heutigen Kunstschaffens ; nichtsdestoweniger be- herrschen noch heute der Akanthus und die klassischen Blüthenprofile alle vegetabilische Ornamentik.
4(3 Die Anfänge des Pflanzenornanients etc.
Strauch, oder selbst als niedriges Zierblumengewächs, sondern vielmehr deren einzelne Theile, Blüthe oder Blatt, die man zu Symbolen ver- wendet hat. Wir werden sehen, dass solche Theile schon in den ältesten Denkmälern der egyptischen Kunst mehrfach bis zur Unkennt- lichkeit stilisirt gewesen sind: trotz ihrer Verwendung in gegenständ- lichem Sinne trugen sie somit bereits damals in sich den siclieren Keim späterer ornamentaler Bedeutung und Fortbildung.
Der künstlerisch wichtigste, Aveil vollendetste Theil eines Pflanzcn- gebildes ist die Blüthe mit ihrer farbenprächtigen Krone, die sich in der Regel aus dem Kelche strahlenftirmig entwickelt. Die Vorstufe zur Blüthe bildet die in der Regel sjutz zulaufende und darum zur Bekrö- nung geeignete Knospe; der dritte wichtige Theil ist das Blatt. Die Frucht tritt dagegen im ältesten Symbolismus und daher auch in der ältesten Ornamentik merklich zurück; die nächstliegende Erklärung für diese bemerkenswerthe Thatsache mag zum Theil vielleicht darin zu suchen sein, dass die Frucht wegen ihrer wenig gegliederten, oft asymmetrischen Form sich der künstlerischen Nachbildung nicht sonder- lich empfahl.
Ein selir wichtiges Element in der Pflanzendnrstellung, insbesondere mit Rücksicht auf die spätere ornamentale EntAvicklung, ist endlich der Stiel. Durch den Stiel Avird es nämlich erst möglich die einzelnen Blüthen, Knospen und Blätter untereinander in Verl)indung zu setzen: diese Verbindung ist aber hinwiederum die Vorbedingung für eine zusammenhängende Ausfüllung sei es bandartiger Streifen, sei es decken- artiger Flächenfelder mit vegetabilischen Motiven. Der Stiel tritt uns nun in der altegyptischen Kunst überwiegend nicht als ein der Wirklich- keit nachgezeichnetes Gebilde, sondern als ein lineares, geometrisches Element entgegen. Dadurch Avar er von Aornherein befähigt, alle die geschwungenen und gerollten Formen anzunehmen, die den rein geo- metrischen, aus Curven gebildeten Configurationen zu Grunde liegen. Hiernach erscheint der Stiel als ein ganz besonders Avichtiger Faktor für die zunelmiend ornamentale Ausgestaltung dei- ursi)rünglich gegen- ständlich-symbolischen Plianzenmotive. So AA-erden wir frühzeitig in der altegyptischen Kunst Verbindungen von Blütlien und lUätteru mittels der Stiele beobachten können , Avie sie in der Natur an den betreff'enden Pflanzen keinesAvegs vorkommen, un<i nur als eine Ver- fjuickung geom<-trischer Kunstformen mit AM-getaliilisch-gegenständlichen aufgefasst werden können.
Unsere Aufgabe Avird es also sein iinn-rliall) i'inrs Jcilrn Stiles den
Die Anfänge des Pflanzenornaments etc. 47
wir in unsere Betrachtung- einbeziehen werden, zuerst die darin vor- kommenden Blüthen- (Knospen- und Blatt-) Formen für sich vorzu- nehmen, und sodann die Art ihrer Verbindung" untereinander zum Behufe der Flächenfüllung zu untersuchen. Nach beiden Eichtungen wird sich ein zusammenhängender historischer Faden von der ältesten egyptischen bis auf die hellenistische Zeit verfolgen lassen, d. h. bis zu dem Punkte, da die Griechen die EntAvicklung zur Reife gebracht haben: indem sie einerseits den einzelnen Theilmotiven den Charakter vollkommener formaler Schönheit zu verleihen gewusst, anderseits — und das ist ihr besonderes Verdienst — die gefälligste Art der Verbin- dung zwischen den einzelnen ^lotiven geschaffen haben, nämlich die line of beauty, die rhythmisch Ijewegte Bänke. Chronologisch genommen zerfällt hiernach unsere Untersuchung in zwei Theile: 1. die Nach- weisung des Ursprungs der in der hellenisch-römischen Universalkunst (der Mittelmeerkunst) verbreiteten Pflanzenmotive in den altorientalischen Künsten und die Geschichte ihrer allmäligen Ausbildung in diesen Künsten, 2. die Verfolgung der Fortbildung dieser Motive durch die Griechen bis auf die hellenistische Zeit, insbesondere die Entfaltung des specifisch griechischen Motives der ornamentalen Eanke. In diesem zweiten Theile wollen wir unsere eigentliche Hauptaufgabe erblicken, zu der sich der erste Theil bloss als eine möglichst knapp gefasste Einleitung verhalten soll.
Wir werden da eine fortlaufende Entwicklung kennen lernen, die auf ihren eigenen Spuren einhergeht. Um einer symbolischen, gegen- ständlichen Bedeutung Avillen mögen die ersten Pflanzenformen in die Kunst gekommen sein. An diese Typen, und im Wesentlichen bloss an diese wenigen Typen, knüpft die Aveitere Fortbildung an; an eine neuerliche Heranziehung bestimmter Pflanzen in ihrer natürlichen Er- scheinung dachte zunächst, und noch Jahrtausende darüber hinaus, Niemand. Sogar als die deutliche Tendenz hervortrat, die solchermaassen nahezu geometrisirten pflanzlichen Ornamentformen wieder dem natür- lichen Pflanzenhabitus näher zu bringen, erfolgte dies zunächst nicht in dem Wege einer realistischen Nachbildung leibhaftiger Pflanzen, sondern im Wege allmäliger leiser Naturalisirung , Belebung der überlieferten Pflanzenornamente. Die Schlüsse, die sich aus dieser Beobachtung für die Geschichte der Ornamentik im Allgemeinen ergeben, liegen auf der Hand. Darin beruht nicht zum Geringsten die Bedeutung, die wir den in diesem Capitel zu behandelnden Fragen beizumessen uns für berech- tigt halten.
48
A. Altorientalisches.
A. Altorientalisiiehes.
1. Egyptisches.
Die Schaffung- des Pflanzenoriiameuts.
ZavcI Pflanzen sind es, die man bisher als untrennbar von aller egyptisehen Kultur gx'halten hat und die man auch in der bilden- den Kunst der Altegypter als die gebräuchlichsten Symbole überall an den Denkmälern wiederzufinden glaubte: der Lotus und der Pa- pyrus. Hinsichtlich der kulturellen Bedeutung dieser beiden Pflanzen für die alten Egj^pter hatte man eine kostbare Stütze an dem Be- richte, den uns Herodot über die Stellung derselben im Haushalte der Egypter hinterlassen hat. Und auch auf Kunstdenkmälern lagen
Fig. 7. I.otusblüthe in Profilansicht.
Fig. 8. Lotusblüthe in Profilansiclit (sogen. Papyrus).
zwei in die frühesten Zeiten zurückreichende, stilisirte Blumenprofile vor, von denen das eine mit deutlich ausgeprägten dreieckigen Blättern (Fig. 7) mit dem Lotus, das andere, glockenföi-migc, ohne Andeutung von Blättern, mit dem Papyrus (Fig. 8) identificirt wurde. In der That zeigt die Blüthenkrone derjenigen Pflanzenspecies, die man bisher für den Lotus der Altegypter angesehen hat, einen Kranz von drei- eckigen Blättern. Die Papyruspflanze dagegen ist bekrönt von einem Wedel, dessen einzelne, haarförmige Halme nach allen Seiten strahlen- artig auseinanderfalleii; da aber die realistische Wiedergabe eines solchen zerflatternden Gebildes einer noch unperspektivisclien, mit Umrisszeichnungen in der Fläclie opcrinnden Kunst geradezu unmög- lich gewesen sein mochte, nahm man an, dass der egyptischo Künstler sich die Halme des Wedels in einen glockenförmigen Schopf zusammen- gefasst dachte, dessen kompakte Masse sich dann unschwer von einem
1. Egyptisches. 49
festen Kontui' umschreiben liess. Eine entscheidende Eolle hei dieser Zuweisung der Profile an Lotus und Papyrus spielte ein angeblicher Symbolismus des Papyrus für das sümpfe- und schilfreiche Delta, des Lotus für das trockene Oberegypten.
Innerhalb der Kunst des Alten Reichs Hessen sich die beiden Profile leidlich streng auseinanderhalten. In der Kunst des Neuen Reichs aber, dessen Zeitstellung gleichwohl im Verhältniss zu den übrigen uns bekannt gewordenen Künsten der antiken Kulturvölker noch als eine weit zurückliegende gelten darf, kam man mit einer absoluten Schei- dung der beiden Grundtypen von einander nicht mehr aus. Dies ist auch den Forschern nicht entgangen, die sich bisher der Mühe unter- zogen haben den altegyptischen Denkmälern vom kunsthistorischen Standpunkte aus näherzutreten; doch wagte Niemand an der Stich- haltigkeit der Scheidung selbst zu rütteln. Bezeichnend hiefür ist die Haltung von G. Perrot, dem wir doch bisher die einzige wahrhaft wissenschaftliche Gesammtbearbeitung der altegyptischen Kunstgeschichte verdanken. Auch dieser Forscher wusste sich keinen Rath, w^enn er z. B. Papyrusprofile von Glockenform, aber mit dreiblättrigem Lotus- kelch versehen, vorfand; er behalf sich in solchem Falle mit der aus- weichenden Bezeichnung: Wasserpflanzen^), womit sowohl Lotus als Papyrus gemeint sein konnte. Ich w-ar geneigt mir den Sachverhalt so zu erklären, dass in der Kunst des Neuen Reichs eine auch an vielen anderen Motiven nicht zu verkennende Tendenz zur ornamen- talen Behandlung der überkommenen Sjnnbole allmälig zu einer Ver- mengung des Lotus- mit dem Papyrustypus geführt haben mochte. Dies hätte freilich auch eine Vermengung der beiden Symbole in der religiösen Anschauung der Egypter des Neuen Reichs zur Voraussetzung haben müssen, und darin lag für mich das Unbefriedigende meiner eigenen Erklärung, weil aus den bisherigen Arbeiten der Egyptologen kein Zeuguiss für eine solche Wandlung der religiös-symbolischen Begriffe zu ersehen Avar.
W. G. Goodyear 6) w^ar es nun, der die Frage jüngst in der Weise zur Entscheidung gebracht hat, dass er die Identificirung des Glocken- typus mit dem Papyrus als auf einem Irrthume beruhend nachweist, und denselben ebenso für den Lotus in Anspruch nimmt wie den Typus
'") Histoire de l'art dans l'antiquite I. S. 845 Fig. 586. ^) The grammar of the lotus, a new history of. classic ornament as a development of sun worship. London, Sampson Low, Marston & Co. 1891.
Riegl, Stilfragen. 4
5( ) A. Altovientalisches.
mit den dreieckigen Blättern'). Das Hauptarg'ument in seiner Beweis- führung bildet der Hinweis auf den Umstand, dass die Hieroglyphe mit der Gloekenbekrönung keineswegs zwingend als Papyrus inter- prctirt werden mnss, und dass die auf das Papyrusland Unteregypten bezogene Bekronung nicht bloss auf dem angeblichen Papyrus, sondern auch auf ausgesprochenem Lotus mit dreispaltigem Profil, also auf dem vermeintlichen Repräsentanten von Oberegypten vorkommt. Damit Avaren die in der Eg^^ptologie wurzelnden Hmdernisse, über Avelche die Nichtegyptologen nicht hinweg konnten, hinweggeräumt und der kunst- historischen Forschung der Weg geebnet, um das Verhältniss der beiden, dieselbe Blumenspecies symbolisirenden Typen zu einander zu klären. Aber noch eine weitere fundamentale Aufklärung verdanken wir dem genannten amerikanischen Forscher. Wie sich aus seinen Aus- führungen'a) überzeugend ergiebt, hat man bisher das Lotnsmotiv der altegyptischen Kunst beharrlich mit einer Pflanzenspecies als angeb- lichem Vorbild identificirt, die in Jenen bildlichen Darstellungen gar nicht gemeint ist. Es ist dies die Species Nymphaea Nelumbo (oder Xelumbium speciosum), die streng genommen gar nicht zur botanischen Gruppe des Lotus gehört. Den Irrthum hat in letzter Linie Herodot's Bericht verschuldet, der von einer in Egypten sehr populären Lotusgattung berichtete, dass deren Samen essbar wären. Dies stimmt nun allerdings nur für die erwähnte Species, die aber in Egypten nicht heimisch, heute daselbst gar nicht zu finden ist, dagegen in Indien hauptsächlich gedeiht und von dort in das altegyptische Reich für eine gewisse Zeit verpflanzt worden sein mochte, bis dieselbe Mangels fort- gesetzter Kultur wieder vom Boden des Nilthals verschwand. Der wirkliche heilige Lotus dagegen, der noch heute in Egypten gedeiht, ist die Nymphaea Lotus (weisser Lotus), von dem auch eine blaue Abart (Nymphaea caerulea) existirt. Auch diesbezüglich Avürde es zu weit führen die ganze Beweisführung Goodyear's hierher zu setzen, und ich beschränke mich daher nur auf die Hervorhebung des über- zeugendsten Punktes, nämlich der Uebereinstimmung des Lotusblattes CFig. 9), wie es an den Kunstdenkmälern typisch wiederkehrt, mit der gespaltenen Blattform von Nymphaea Lotus, wogegen die Trichterform des Blattes von Neluinliinm speciosum sicli ;nil' keine Weise — man mag selbst eine noch so wimdei-liche Projektion d<'s Blattes in der künst-
7) a. a. O. 43 ff. 7») a. a. 0. S. 2r) ff.
1. Egyptisclies.
51
lerischen Anschauung- der cältesten Egyi)ter für die Erklärung zu Hilfe nehmen — mit dem Blatttypus der Denkmäler vereinigen lässt^).
Von den einzelnen Theilen der Lotuspflanze, die in der bildenden Kunst des alten Egyptens zur Darstellung gelangt sind, nimmt weitaus das grösste Interesse die Blüthe in Anspruch. Wir wollen daher die minder wichtigen Theile, Knospe und Blatt, gleich Eingangs abthun, um später nicht mehr darauf zurückkommen zu müssen. Das Charak- teristische des Lotus-Blattes (Fig. 9) ist, wie oben erwähnt wurde, der Spalt, der oft nahezu bis zur Mitte des Blattes reicht. Die Grundform lässt sich am besten einer Schaufel vergleichen; die dem Spalt entgegen- gesetzte Seite ist zumeist im Halbkreis abgerundet, doch läuft sie nicht selten auch in eine Spitze aus, die gelegentlich sogar etwas geschweift erscheint. In dieser letzteren Form, die mit dem Epheublatt grosse
Fig. 10. Lotusknospe.
Aehnlichkeit zeigt, wäre das ■ Blatt in die griechische Kunst über- gegangen, sofern nämlich Goodyear Recht hat, indem er das mykenische Epheublatt als Nachbildung des zugespitzten egyptischen Lotusblattes erklärt. Was mich zögern lässt, dieser Meinung Goodyears schlankweg beizustimmen, ist der Umstand, dass das Epheublatt in der mykenischen Kunst in solchen Verbindungen auftritt, wie sie der egyptischen Kunst fremd, für die spätere hellenische aber charakteristisch gewesen sind. Hiervon wird übrigens im Capitel über die mykenische Pflanzenorna- mentik noch im Besonderen zu handeln sein.
^) Die hellenistisch-römische Kunst in ihrer naturalisirenden Tendenz hat dagegen auch das Nelumbium speciosum, die essbare, von Herodot erwähnte Species dargestellt, wie die pompejanischen Nil-Mosaiken in Neapel zeigen: geschuppte Knospen, Fruchtknoten in Form eines Spritzkannen-Siebes, und die Trichterblätter in nahezu perspektivischer Projektion.
4*
52 -A-. Altorientalisches.
Die Lotus-Knospe in der egyptisclien Kunst zeigt die typische Form eines Tropfens {Fig. 10) , und ist häutig- ohne alle Gliederung- l^elassen. In der Natur ist der innere Kern der Knospe von Nyniphaea lotus umschlossen von vier gieiehlangen Blättern, die denselben voll- ständig einhüllen.. Die Lotusknospe ist am häufigsten alternirend mit der Lotusblüthe (Fig. 11) dargestellt. Die beiden Motive — Blüthe und Knospe — sind neben einander gereiht ; die Blüthen sind das grössere Motiv und ihre weit ausladenden Kelchblätter schlagen oft von beiden Seiten über der dazwischen stehenden Knosj>e zusammen. Dass in den Lotusblüthen-Knospen-Eeihen der Ausgangspunkt für das griechische Kyma un<l den Eierstab zu suchen ist, wurde schon öfter bemerkt, und auch neuerlich von Goodyear-') ausführlich begründet. Die Lotus- knospe kommt aber auch ohne Begleitung der Blüthe vor, und zwar ent- weder vereinzelt, oder in stetiger Wiederholung gereiht; sie dient dann
Fitr. 11. Keihung von alteniirenden LotiisbUithen uud Knospen.
in der Regel zur Bekrönung eines Schaftes (Säule) oder eines horizon- talen Gebälkes. Eine nähere Erklärung für diese Funktion wird sich bei Betrachtung des Lotuskapitäls ergeljen.
Die Lotus-Blüthe tritt uns in der altegyptischen Kunst in allen drei Projektionen entgegen, in denen überhaupt Blüthenformen dar- gestellt worden sind, so lange die Kunst in der Wiedergabe von Pflanzen auf dem Standpunkte der Flachstilisirung stehen geblieben war. Es sind dies 1. die Vollansicht (en face), 2. die Seitenansicht (en profil), 3. die halbe Vollansicht (en demiface).
Die Lotusl)lüthe in der Vollansicht ist die Boseüc. (Fig. 12.) Goodyear'*') hält sie zwar fiir eine Nachbildung des Fruchtknotens von Nymp)haea lotus, der in der That eine ähnliche Zeichnung zur Schau trägt. .\ber späterhin verstand man unter der Ro-sette immer zweifel-
'■') a. a. 0. S. ir)5 ff. Goodyear liat hiebe! hauptsächlich das dorische Kyma im A-Ufre. Vom Icshischcn läs.st es sicli aber i>-leichfalls naclnveiscn: man betrachte bloss Prisse d'Avcnncs, L'art eg-vptieii, Frises (leuronnecs, Fig. 5 und 6.
'°) a. a. 0. 103.
1. Egyptisches. 53
los die vollentfaltete Blumenkrone und es ist nicht einzusehen, warum das künstlerisch Bestechende dieser Projektion, die centrale Contigura- tion der strahlenförmig zusammengesetzten Blättchen, sich nicht auch schon den alten Egyptern in höherem Maasse aufgedrungen haben sollte, als der Fruchtknoten der abgewelkten Blume. Goodyear stützt seine Meinung hauptsächlich darauf, dass sich neben spitz auslaufenden Blättchen, wie sie der Lotusblüthenkrone entsprechen, auch umgekehrt solche in Tropfenform, mit dem stumpfen Ende nach Aussen (Fig. 12) finden"), in welcher Form sie den Blättchen auf dem vorerwähnten Fruchtknoten sehr ähnlich sehen. Dass auch im letzteren Falle ein Pro- dukt der Lotuspflanze gemeint ist, bcAveisen die Denkmäler, an denen das Motiv als gleichwerrhig mit unzweifelhaften Lotusmotiven vorkommt.
Fig. 12. Stnmpfblättrige Lotusblüthe in A'ollansicht (Rosette).
Wir werden aber die Bildung mit abgestumpften Blättern eher als eine blosse Variante der spitzblättrigen Blüthe zu erklären haben, Avie sie sich im Gefolge der typischen Ausgestaltung des centralen Rosetten- motivs von selbst eingestellt haben mochte, indem das Hauptgewicht auf den radianten Blattkranz, und nicht auf die Zeichnung der einzelnen Blätter gelegt wurde. Goodyear hat übrigens selbst die Möglichkeit eingeräumt, die Rosette als Lotusblüthe in Vollansicht zu erklären ; dass er sich schliesslich für den Fruclitknöten als das Vorbildliche entschied, hängt mit der ausgesprochenen Tendenz dieses Autors zusammen, mög- lichst viel aus sinnenfälligen und möglichst wenig aus künstlerischen Prämissen abzuleiten.
Die Rosette findet sich, sow^eit unsere Denkmälerkunde heute reicht, erst in der Kunst des Neuen Reiches häufiger angewendet. Gleichwohl
^') Zusammengestellt bei Goodyear Taf. XX.
54 A. Altorientalisches .
besitzen "wir Avenigstens ein Beispiel dafür ans dem Alten E eiche, näm- lich die Statue der Xofret'-), deren Diadem mit Rosetten, und zwar vom Typus mit stumpf auslaufenden Blättern, verziert ist. Besonders charak- teristisch ist die Rosette späterhin für die Ornamentik der assyrischen Kunst geworden.
Ich kann Ludwig v. Sybel'^) nicht beipflichten, der darum die Rosette den Egyptern von den Semiten aus Asien zugebracht sein lässt. Das Xeue thebanische Reich beginnt zu einer Zeit, aus der uns die Existenz einer Pflanzenornamentik weder von der chaldäischen noch von irgend einer anderen asiatischen Kunst durch sichergestellte Denkmäler bezeugt ist. Die Möglichkeit, dass die Chaldäer bereits im IG. und 17. Jahrh. v. Chr. die Rosette ornamental verwendet haben, soll ja nicht in Abrede gestellt werden. Aber der Umstand allein, dass die Rosette im Alten Reiche noch nicht öfter nachzuweisen ist und ander- seits in der späteren mesopotamischen Kunst eine Hauptrolle spielt, reicht noch nicht aus, um ihren asiatischen Ursprung auch für die egyptische Kunst zu beweisen. Einer solchen Annahme widerspricht sclion der Charakter der Altegypter, ihr stolz ablehnendes Verhalten gegen alles Fremde, in ihren Augen Barbarische. Mit der siegreichen Xcuaufrichtung der nationalen Sell)Ständigkeit nach der Vertreibung der Hyksos scheint eben ein intensiver Kulturaufschwung Hand in Hand gegangen zu sein, der auch zu gesteigertem Schaffen auf dem Gebiete der dekorativen Formen angeregt haben mochte. Das ganze Kunstleben der Egypter in der Zeit der Thutmessiden und Ramessiden zeugt von einer tief greifenden Neubelebung. Die Erklärung, die Sybel hierfür hat: eine vorgebliche Befruchtung eg5q)tischer Trockenheit durch asia- tische Ueberfülle wird insolangc unstichhaltig bleiben, als diese vor- gebliche Ueberfülle in der asiatischen Kunst jener Zeit nicht monu- mental erwiesen ist.
'-; Maspero, Egyptisclie Kunstgeschiclite S. 21.3 V\g. 1!U.
") Kritik des egyptischen Ornaments S. 17. Die nicht zu unterschätzende Bedeutung dieses im J. 1883 erschienenen Schriftchens beruht darin, dass es ein ganz vereinzelter Erstlingsversuch gewesen ist, der Wiclitinkeit des Stu- diiuns der Ornamentik für die Kuiistgescliichte des Altertluxnis gorecht zu werden. Mit der Tendenz der Sclirift, die neuen Erscheinungen in der Kunst des zw(!iten thebanischen Reiches auf asiatische Einflüsse zurückzuführen, kann icli mich in keinem Punkte einverstanden erklären. — Neuerlich hat licli auch Goodyc^ir (S. 09 ff.) dagegen ausgesprochen, unter sehr glücklicher Ausführung seiner, von mir vollstiindi;;- getlieilten Meiiuing üln-r das Veiliiilt- niss zwisclien altegyptischer und mesopolanüscher Kunst.
1. Egyptisches. 55
Weitaus die wichtigste Projelvtion, in der uns die Lotusblüthe in der altegyptischen Kunst entgegentritt, ist diejenige in Seitenansicht. Und zwar haben wir hier mehrere Typen zu unterscheiden.
Der, wo nicht älteste, so doch ursprünglich verbreitetste Typus ist derjenige, den wir bereits früher in Gegenüberstellung zum augeb- lichen Papyrus kennen gelernt haben (Fig. 7). Typisch hierfür sind drei spitze Kelchblätter, eines in der Mitte, zwei an den Seiten, ent- weder geradlinig oder — was das Gewöhnlichere ist — in leise ge- schwungenem Karniesprofil (Fig. 7) ausladend. In die spitzen Winkel, oder dreieckigen Zwickel, die durch je zwei benachbarte Kelchblätter gebildet werden, sind wiederum ähnliche spitze Blätter eingezeichnet, und in die hierdurch entstandenen vermehrten Zwickel abermals Blätter von derselben Form, aber entsprechend kleiner. Alle diese zwickel- füllenden Blätter bilden zusammen die Blüthenkrone, die drei grössten, zuerst erwähnten Blätter den Kelch. Goodyear hat nun gezeigt (S. 25flf.), dass von der Blüthe der Nymphaea Lotus in der That bei der Betrach- tung von einer Seite nur drei von den vier grossen Kelchblättern zu sehen sind, und die Blätter der Krone in ganz ähnlicher, wechselseitig zwickelfülleuder Weise wie in Fig. 7 innerhalb des Kelches empor- ragen. Goodyear hat zugleich auch nachgewiesen, dass das bisher irr- thümlich für das Vorbild der egyptischen Lotusdarstellungen gehaltene Nelumbium speciosum einen mehr als vierblättrigen Kelch hat, und die Blätter desselben sich keineswegs so scharf von denjenigen der Krone unterscheiden lassen, dass es gerechtfertigt erscheinen könnte, darauf eine Stilisirung zu basiren, wie sie in dem durch Fig. 7 repräsentirten Typus enthalten zu sein scheint.
Dieser Typus der Lotusblüthe in Seitenansicht hat im Laufe der Zeit einige Abbreviationen, und in Folge dessen auch leichte Verände- rungen erfahren. Es würde zu weit führen, dieselben so weitgehend zu erörtern, wie dies Goodyear'*) gethan hat. Nur eine Abkürzung des Typus muss hier Erwähnung finden, da dieselbe auf die Ausgestal- tung des angeblichen Papyrus-Typus nicht ohne Einfluss gewesen zu sein scheint. Die Abkürzung bestand darin, dass man bloss die drei Blätter des Kelches zur Ausführung brachte, diejenigen der Blätterkrone aber unterliess und sich damit begnügte, diese letztere durch eine die Scheitel der drei Kelchblätter verbindende krumme Linie zu bezeichnen. (Fig. 13.)
M) Vgl. insbesondere seine Taf. III.
oü
A. Altoi"ientalisches.
Ein zweiter Typus von Lotusblüthe in der Seitenansiclit ist der glockenförmige (Fig. 8), den man bisher ausnamslos auf den Papyrus- wedel als vermeintliches Vorbild zurückgeführt hat. Der Unterschied gegenüber dem ersten Typus berulit in dem glockenförmigi-n Profil und in dem ursprünglichen Mangel jeglicher Andeutung von Blättern. Aber selbst wenn wir die beiden Typen ohne Zuhilfenahme eines äusseren vermittelnden Dritten nebeneinander halten, so werden wir gewisse Züge entdecken, die beiden gemeinsam sind und eine Brücke zwischen denselben bilden. Der karniesförmige Schwatng, der den seit- wärtigen Kelchblättern des ersten Typus so überaus häufig gegeben erscheint (Fig. 7), bereitet bereits vor auf den potenzirten Schwung, als dessen Resultat die Glockenforni erscheint. Und was den Mangel
Fig. 13.
Lotusblüthe in I'rolilausicht
mit schematisch gezeichneter Krone.
Fig. 14.
Glockenförmiges
Lotusblüthen-K.apitäl.
an Blattzeichnung am sogen. Papyrus-Profil lietrifft, so braucht nur auf di(; erwähnte Al)breviatur des ersten Typus (Fig. 13) hingewiesen zu werden, um zu zeigen, dass in der altegyptischen Kunst eine Tendenz vorhanden Avar, gelegentlich die Details zu unterdrücken, soliald nur die begrenzenden Grundlinien gezogen waren. Doch werden wir an- gesichts der Häufigkeit des Papyrus-Profils'^) darauf bedacht sein müssen, über die vorgebrachten allgemeinen Erwägungen liinaus nach einem bestimmteren äusseren Beweggrund zu suchen, der zur Adoi)tion des Glockeni)rofils für die Darstellung der Lotusblüthe in Seitensicht geführt haben nioclite.
Goodyear, dem wir die Aiilkhiruiig ülx-r die Vorbildlichkeit des Liitiis jiiistatt des Paiixrns für die glockenfürmig(^ Blütlie verdanken,
",) -Nach Goody<;ir macht dasselbe seit dem Alten Reiche die Hälfte aller Lotusdarstellunffen in S<:iteiiansicht aus.
1. Egyptisclies.
57
hat auch für das Zustandekommen dieser letzteren Form eine selir an- sprechende Hypothese geliefert. Er hat nämlich'^) darauf hingewiesen, dass die bildnerische Darstellung der Lotusblüthe als Kundwerk in hartem Material (Stein) nothgedrungenermaassen zu einer glockenähn- lichen Form ohne Angabe von Blättern mittels Skulptur führen musste. Zum Beweis hierfür citirt er das glockenförmige Kapital (Fig. 14), das in der That nichts anderes ist, als eine in EundAverk übersetzte Lotus- blüthe, an welcher die Blätter nicht plastisch herausgearbeitet, sondern aufgemalt sind. ]\[an hat ferner in Gräbern kleine Säulchen mit dem Glockenkapitäl gefunden, die offenbar als Amu- lete zu erklären sind und beweisen, dass die bildnerische Herstellung von Lotusblüthen in Eundwerk eine sehr umfassende und verbreitete gewesen sein muss. Goodyear nimmt hiernach an, dass die Lotusblüthe mit Glockenprofil zwar nicht die Lotusblüthe als solche, sondern ein Lotus-Amulet darstelle, und als solches wiederum in die flächen verzierende Kunst, in die Malerei oder das Eelief en creux, Aufnahme gefunden habe. Was sich nun die alten Egypter unter der glockenförmigen Lotusblüthe zum Unter- schiede von dem ersterwähnten Typus Beson- deres gedacht haben, wird heute schwer zu ent- scheiden sein. Aber die Erklärung des Zustande- kommens des Motivs in Folge des Durchpassirens durch die Skulptur in liartem Material wird sich kaum durch eine bessere ersetzen lassen.
Diese Stelle halte ich für die passendste, um einige Bemerkungen über die Bedeutung des Lotusmotivs in der Architektur der alten Egypter einzuschalten. Wir haben eben eine Art des Lotuskapitäls, diejenige des glockenförmigen, kennen gelernt. Eine andere nicht minder häufige Art von Kapital ist diejenige, die das Motiv der Lotus -Knospe verwendet (Fig. 15). Zur Funktion des Vermitteins zwischen tragender Säule und lasten- dem Architrav war ein zartes Blumen- oder Knospen -Motiv doch wohl nicht geeignet, zumal angesichts der wuchtigen Formen, in denen sich die altegyptische Architektur ergieng. Aber auch die andere
Fig. 15.
Säule mit Lotus-Knospeu-
Kapitäl.
'6) a. a. 0. S. 51 ff.
58 -^- Altorieiitalisches.
Hypothese, die darin den Xachklang einer nrsprünglieh üblichen Ver- kleidung des Säulenkerns mit festliehen Lotusgewinden zu erblicken meint, ist zu weit hergeholt und aus dem Gesammtcharakter dieser Kunst kaum zu rechtfertigen. Das Wahrscheinlichste ist vielmehr, dass di-r Verwendung ' des Lotusmotivs als Kapital eine sehr primitive künstlerische Empfindung — etwa Avie das Postulat der Symmetrie, Avenn auch ein minder gebieterisches — zu Grunde lag, die den Alt- egyptern, Avie allenthalben die Denkmäler lehren, ausserordentlich mass- gebend erschienen sein muss: nämlich jene Empfindung, die eine künstlerische Behandlung der freien Endigung verlangt. Ueberall dort, wo ein wichtigerer Gegenstand, namentlich von überAviegender Längen- ausdehnung (z. B. eine Stange) in eine Spitze ausläuft, A^erlangte der altegA'ptische Kunstsinn eine ornamentale Betonung dieses Auslaufens, Endigens. Besonders ZAA'ingend Avar das Postulat dort, avo es sich um ein Auslaufen nach oben, um eine Bekrönung handelte; in diesem Falle musste selbst die AA-agrechte, in überwiegender Breitenrichtung A^er- laufende MauerAvand sich einen deutlichen Krönungssclimuck, die bekannte egA'ptische Ilohlkelüe gefallen lassen.'^)
Lm nun die Endigung, Bekrönung zum künstlerischen Ausdrucke zu bringen, gab es verschiedene Mittel. Wie der menschliche Körper A'om Kopfe bekrönt ist, so Avird in der egyptischen und mesopotamischen Kunst der Thierkopf nicht selten zur Bekrönung von Möbelpfosten ver- Avendet. '^) Das Aveitaus gebräuchlichste MotiA' zur Bezeichnung der freien Endigung Avar aber allezeit, soweit Avir die altegyptische Kunst zurück zu A'erfolgen im Stande sind, die Lotusblütlie. In IjOtusl)lüilicn laufen dif Maschen der geknoteten Diadembinden '^) aus, in sogen. Papyrus
'') Auf so platt-rationalistischcin Wege, Avie Sybel (a. a. 0. S. 5) sich die Entstehung- der egyptischen Hohlkehle denkt — durch Umbieg'ung dea- krönenden Eohrstababschnitte in Folge ihrer Belastung- durch einen auf- liegenden Balken in der ureg-yptischen Holzarchitektur — pflegen Ornamente doch wohl nicht zu entstehen. Der egyptischen Hohlkehle liegt vielmehr derselbe Gedanke der Bekrönung- zu Grunde, wie z. B. dem völlig- analogen Ko|itschmuck einer (löttin (Prisse, ;i. a. 0. La deesse Anouke et Panises 11). Als vorbildlich für letzteren möchte ich wiederum den kranzförmigen Federn- kopfschmuck ans(!hen, den z. B. die Aethiopier tragen bei Prisse, Arriv6e a The.bes «lune princesse d'Ethiopie.
'*; Parallelen dazu zeigen schon in den ältesten Gräbern von Memphis die Stuhlfüsse, die in Hufe, oder in Löwentatzen auslaufen, wodurch olTcnhar die besondere Funktion dieser nicht frei sondern stuni|)r auf dem rxxlcn endi- genden Glieder betont Averden sollte.
'») Z. B. Lcpsius Denkmäler H. 73.
1. Egyptisches.
59
das Sitzbrett am Stuhle nach rückwärts, und zwar alles dies schon in der Kunst des Alten Reiches. Die Stricke, mit denen die Gefangenen der thebanischen Pharaonen gefesselt erscheinen, endigen ebenso in Lotusprofile, wie seit ältester Zeit die Schnäbel der Mlboote. Aus der- selben Bedeutung heraus werden wir nunmehr auch die Lotuskapitäle der Egypter zu erklären haben. Es bedarf hiezu gar nicht der her- geholten Erklärungen, die man für die Lotuskelch- und Lotusknospen- Kapitäle gesucht hat. Die Säule ist eben ursprünglich gar nicht eine belastete Dachstütze, sondern ein frei endigender Pfosten (Zeltstange !), so wie die palmettengekrönte griechische Stele. Dementsprechend ist das Kapital ursprünglich ebenfalls nur Bekrönung und nichts als Bekrönung: die Funktion des Vermitteins zwischen tragender Säule und lastendem
Fig. IG.
Lotusblüthe in halber Vollansicht.
(egyptische Palmette.)
Fig. 17.
Lotusblüthe in Profil
mit Volutenkelch.
xA.rchitrav ist erst viel später dem baukünstlerischen Sinn bewusst und ein ästhetisch bedeutsamer Faktor geworden. Zum Ausdrucke der freien Endigung trägt nun die Säule bei den Egyptern die Lotusblüthe oder Knospe als Kapital: daher auch der Steinwürfel, der sich als Kämpfer zwischen Kapital und Architrav einschiebt, sobald die Säule zum Tragen bestimmt ist.
Die dritte Projektion, in der uns die Lotusblüthe auf den alt- egyptischen Denkmälern entgegentritt, ist die halbe Voll an sieht (Fig. 16). Wir vermögen daran drei distinkte Theile zu unterscheiden: einen unteren, der am Ansatz durch eine von der Lotusblüthe in Profil (Fig. 7) entlehnte Blatthülse (a) bezeichnet ist und nach oben in zwei divergirende Voluten (b) ausläuft, in deren äusseren Zwickeln je ein kleiner tropfenförmiger Ansatz (c) sichtbar ist, — einen mittleren in Form
60 J^- Altorientalisches.
eines bogeuförmigen Zäpfchens (d) das den von dm beiden Voluten im Zusammenstossen gebildeten "Winkel oder Zwickel ausfüllt, — und einen krönenden Blattfächer (e). Wir pflegen dieses Motiv in der Form, in der es uns in der griechischen Kunst entgegentritt, als Pahnette zu bezeichnen.
Der wichtigste, weil für die Gesammtform bezeichnendste Theil sind hier die Voluten. Sie sind als der in Seitenansicht projicirte Kelch der Blüthe aufzufassen, Avie das Zwischenglied, Fig. 17, (von einem sogen. Porzellan-Aniulet im Louvre) beweist, wo der Kelch nicht mit Zwickelzapfen und Blattfächer, sondern mit den dreieckigen Blättern des ersten Profiltypus (Fig. 7) gefüllt erscheint.
Das erste Auftreten des Volutenkelchs ist von ausserordentr lieber Wichtigkeit für die gesammtc Geschichte der Orna- mentik. Dass mindestens ZAvischen den Volutenkelchformen der antiken Stile ein kausaler Zusammenhang obwalten müsse, hat man bereits seit Längerem gemuthmasst; insbesondere die Voluten des jonischen Kapitals gaben in ihren augenscheinlichen Beziehungen zu den alt- orientalischen Volutenkapitälen den Forschern viel zu denken. Es hat sich allmälig eine ganze Literatur über diesen Gegenstand angesammelt, die sich bei Puchstein 2'^) und zum Theil auch bei Goodyear^') zusanmien- gestellt findet. Die Mehrzahl der Forscher rieth auf asiatischen Ur- sprung, und der Umstand, dass man — oifenbar unter dem flinflusse der beliebten Theorie, wonach so ziemlich alle älteren Künste eine wesentlich autochthone Entwicklung genommen hätten — den historischen Zu- sammenhang der mesopotamischen mit der altegyptischeu Kunst ge- flissentlich unterschätzte, war auch die Ursache, dass man die alt- egj'ptischen Volutenformen nicht in ihrer vollen Bedeutung als Ausgangs- punkt der ganzen Entwicklung erkannte, trotzdem schon vor mehreren Jahren ein französischer Ingenieur, .^1. Dieulafoy--), die Vorl)ildliehkeit gewisser altegyptischer Bläfterformen für das jonische Kapital aus- drücklich behauptet hat. Mit aller Entschiedenheit ist für den egyptischen Volutenkelcli als Ausgangspunkt für alle übrigen Palmettenformen der antiken Stile Goodyear (S. 71 ff".) eingetreten, wobei er zugleich eine f>klärung für die Entstehung des Volutenmotivs versucht hat.
Goodyear's Erklärung für das Aufkommen des Volutenkelchs knüpft
'^'>) Das jonische Kapital, im Aulianye.
") S. 71 ff. in den Anmerkung-en verstreut.
'*) Dieulafoy, L'art antique de la Ferse TU. :'. I tr.
1. Egyptisches.
61
wiederum an die natürliche Erscheinung von Nymphaea Lotus an. Sie beruht auf der Wahrnehmung, dass die vier Kelchblätter dieser Blüthe häufig sich nach unten einrollen, so dass eine solche Blüthe in der Seitenansicht in der That einen von zwei seitlichen Voluten gebildeten Kelch zeigt, aus dem sich der Blätterbüsehel der Krone erhebt (Fig. 18). Die Erklärung besticht durch ihre Einfachheit und scheinbare Exaktheit. Wenn man aber erwägt, dass das Motiv des Volutenkelches in der stilisirten Blumenornamentik aller späteren Völker und Stile, nicht bloss des Alterthums, sondern auch des Mittelalters, insbesondere des sarace- nischen, und noch in der neueren Zeit bis auf unsere Tage eine so überaus wichtige Rolle gespielt hat, so hält es schwer, seinen Ursprung auf eine mehr zufällige Erscheinung zu- rückzuführen, wofür wir das Einrollen der Kelchblätter von Xymphaea Lotus wohl aufzufassen haben. Es muss dem Motiv etwas Dauerhaftes, Gemeingiltiges, Klassisches zu Grunde gelegen haben, dass dasselbe überall so gleichmässig Aufnahme finden und durchdringen liess.
Wodurch nun die Lotusblüthe mit Volutenkelch sich von dem Typus mit geraden Kelchblättern (Fig. 7) im künst- lerischen Effekt unterscheidet, ist die schärfere Trennung zwischen Kelch und Krone. Und in der That lässt sich ein künstlerisches Postulat namhaft machen, das, wie zahlreiche Denkmäler lehren, bei den Altegyptern mindestens in der Zeit des Neuen Reiches ausserordentliche
Berücksichtigung gefunden hat, und das eine Accentuirung der Kelch- form geradezu forderte. Bevor ich aber dieses Postulat des Näheren kennzeichne, erscheint es mir geboten, die übrigen zwei Bestandtheile der egyptischen Palmette zu diskutiren, wobei auch die tropfenförmigen Füllungen, die in die Zwickel der besprochenen Voluten eingesetzt er- scheinen, ihre Erklärung finden Averden.
Haben wir im Volutenkelch eine Seitenansicht gegeben, so ist der bekrönende Blattfächer von Fig. 16 (e) offenbar mit der Projektion der Rosette (Fig. 12) zusammenhängend. Dieser Fächer giebt sich in der That als ein Ausschnitt aus der Rosette. Goodvear hat auch bei seiner
Fig. 18.
Lotusblüthe (in Natur) mit überfallenden
Kelchblättern. Kach Goodyear.
62 A. Altorientalisches.
Erörterung" der egyptischen Palmette-^) für den Fäclier dieselbe Er- klärung geg-eben wie für die Rosette; demzufolge wäre die Palmette eine Kombination des Lotuskelehs mit dem Lotus-Fruchtknoten. Auf S. 53 habe ich die Gründe auseinander gesetzt, welche mich bestimmen, das Vorbild der 'Kosette nicht mit Goodj'ear im Fruchtknoten, sondern in der Vollansicht der aufgeblühten Lotusblume zu erblicken. Dies angewendet auf die Palmette, lässt die letztere als eine Vereinigung des Kelches in der bequemen und natürlichen Seitenansicht mit der Krone in Vollansicht erscheinen.-^) Man wollte den Vollstern zur An- schauung bringen, und das Profil dennoch nicht aufgeben. Ich habe daher vorgeschlagen, diese Projektion als „halbe Vollansielit" zu l)e- zeichnen.
Es bleibt uns noch ein drittes Element zu besprechen, das in der Zeichnung der egyptischen Palmette (Fig. 16) als typisch entgegen- tritt : nämlich das kleine Zäpfchen (d), das den zwischen beiden Voluten gähnenden Zwickel ausfüllt. Zur Rosette oder dem Ausschnitte der- selben gehört das Zäpfchen nicht. Demselben liegt vielmehr wiederum ein primitives künstlerisches Postulat zu Grunde, das in der altegypti- schen Kunst allmächtig geAvesen ist und in dem wir einen der grund- legenden Stilbegi'iffe dieser Kunst zu erblicken haben. Es ist dies das Postulat der Zivickelfüllung. Wo immer zwei divergirende Linien einen einspringenden Winkel zurücklassen, erfordert es das egyptische Stil- gefühl, den leeren Winkel mit einem füllenden Motiv auszustatten; im letzten Grunde geht dieses Postulat Avohl auf den Horror vacui und dieser wiederum auf das Schmückungsbedürfniss als maassgebendstes Agens aller primitiven Künste zurück. Dass die Beweise hierfür aus der Kunst des Alten Reiches verhältnissmässig spärlich vorliegen, hängt wiederum damit zusammen, dass uns aus dieser Frühzeit überwiegend bloss Darstellungen rein gegenständlicher Natur in den Gräbern erhalten geblieben sind. Die üppigste Fundstätte für zwickelfüllende ]\rotive bilden die Deckendekorationen des Xouen Reiches, an denou die Einzel- motive zwar nicht minder noch imiiK'r die alte synil>oliscli<' l'cdcutuiig beibelialten zu haben sclKiincn, aber zum ausgesprochenen IJehnfe der Flächenfüllunff ilire Zusammenstellunsr ofFenbnr unter dekorativ-küiistle-
") a. a. 0. S. lon ff.
■''*) Es ist flies otVciih.-ir die ghüclie künstlerische Absiclit, die sich aiudi in der saracenischeii Kunst (namentlich an Fliesen und Teppichen) in der Vereinigung tulpen- oder knospenf'önniger Blunienprofilc mit Vollrosetten an einem und demselben I'liunenniotiv ihissert.
1. Eg-yptisches. 63
rischen Gesichtspunkten gefunden haben. Gleichwohl ist es die gleiche Tendenz, die schon an der Bildung des uralten geradblättrigen Typus des Lotusblüthenprofils (Fig. 7) unverkennbar mitthätig gewesen ist: die Blätter, welche die Krone bilden, füllen die Zwickel der Kelch- blätter, und über die hiedurch neuerdings gebildete Reihe von Zwickeln steigt eine weitere Lage von kleineren füllenden Blättern empor.
Der Erfüllung des gleichen Postulats der ZwickelfüUung^s) dienen auch die beiden Tropfen (c), welche in die äusseren Zwickel der Voluten an unserer Palmette (Fig. 16), sowie an dem Amulet (Fig. 17) hinein- componirt sind. Goodyear, der alle diese Dinge bloss im Lichte ihrer sym- bolischen Bedeutung auflfasst (ihm ist die gesammte altegyptische Orna- mentik bloss eine Symbolik des Sonnencultus), und die künstlerisch dekorativen Empfindungen, von denen sich die Altegypter ebenso wie jedes andere alte Kunstvolk leiten Hessen, fast grundsätzlich ausser Rechnung lässt, Goodyear, sage ich, erklärt dagegen die erwähnten Tropfen in Fig. KI und 17 als Lotusknospen, d. h. als eine rein äusser- liche Zusammenstellung zweier Symbole, der Blüthe und der Knospe, geradeso, wie er den Begriff der Palmette aus Blüthenkelch und Frucht- knoten konstruirt hat.
Das vorbesprochene Zäpfchen (d) in Fig. 16 sucht Goodyear in ähnlicher Weise zu erklären. In den Fällen, wo dasselbe — wie wir gleich sehen werden (Fig. 20) — ohne bekrönenden Blattfächer, als blosse Füllung des Volutenkelchzwickels vorkommt, erscheint es ihm als umgekehrte Lotusknospe, genau wie an den seitlichen Zwickeln. Ein andermal könnte es das mittlere Kelchblatt sein, das der egyptische Künstler nicht wie die seitlichen Kelchblätter überfallend dargestellt, son- dern am oberen Ende perspektivisch verdickt hätte. Hievon wird man die zweite Erklärung völlig abweisen müssen und von der ersten nur so- viel zugeben dürfen, das auf die tropfenförmige Stilisirung der Zwickel- füllungen das Motiv der Lotusknospe in der That von Einfiuss gewesen sein mag. Der Grund für die Einfügung dieser knospenartigen Füllung in die Zwickel liegt aber jedenfalls ausserhalb der symbolischen Be- deutung der Lotusknospe und ist, wie eben gezeigt wurde, wohl haupt- sächlich ästhetisch-dekorativer Natur.
2') Wir werden noch des öfteren Veranlassung- haben, die Bedeutsamkeit dieses Postulates innerhalb der antiken Ornamentik zu erproben. Der Nach- weis, dass demselben eine weit verbreitete, primitive ästhetische Em- pfindung- zu Grunde liegt, wird g-leichfalls an geeigneterer Stelle Einschaltung- finden.
64 -^- Altoriontalisclies.
Wie -svichtig- gerade der Yolutenkelch bei der Zusammensetzung' der egyptischen Palmette gewesen ist, erhellt am besten daraus, dass zahl- reiche Beispiele vorkommen, an denen der bekrönende Fächer in Weg- fall gekommen ist. An Fig. 19 allerdings ist dieser Wegfall nur ein scheinbarer, die einzelnen Blätter der Fächer sind zwar nicht in Zeichnung ausgeführt, aber der Gesammt-Aussencontour desselben ist deutlich umschrieben. Diese Stilisirung der Krone läuft vielmehr ganz parallel jener in Fig. 13 beobachteten, wo die Blätter der Krone völlig in der gleichen Weise nicht einzeln ausgeführt, sondern nur durch den Gesammtcontour angedeutet sind.-'') Eine zweifellose Eeduction des Palmettenmotivs bietet dagegen Fig. 20, nach einem Kapital aus der Zeit Thutmes' TIT. Hier haben wir, wenn wir von der untersten Blätt-
rig, ly. Fig. 20.
Egyptische Palmette Volutenlielcli mit blossem Zäpfchen
mit scbematiscb gezeichnetem Ulattfächer. als Zwickclfüllunp:. Aus Karnak.
hülse des Kapitals absehen, bloss einen Volnienkeleh mit zwiekel- füllenden Zäpfchen. Da gilt es aber vor Allem, den Nachweis zu liefern, dass wir es in der That mit einer Verkürzung des schon fertigen Palmettenmotivs zu tliun liaben, und nicht umgekehrt mit einer früheren einfacheren Vorstufe, aus welclier sich unter Hinzufügung des Fächers die Palmette erst naclilräglich entwickelt hätte. So viel nun bis jetzt bekannt, ist die T.ilincttc frühfr-") an r)rnl<ni;il(rn iiacli-
-••) Diese Parallele scheint übrigens g'eeignct, uns vollends zu bestärken in der Ueberzeugunff, dass der krönende Fächer der Pabnette eben als Blüten- krone und nicht als Fruchtknoten, wie Goodyear will, aufzufassen ist.
'■'') Nach Goodyear (S 112j unter Berufung aul'Flinders Petrie an Aniuieten aus der XII. Dyn., «lie Palmette mit blosser Contourumschreibung des Fächers sogar schon an Denkmälern aus der Zeit der TV. Dyn.
1. Egyptisches. ß5
geAviesen als der blosse Volntenkelch. Wichtiger ist aber, dass wir für das nachträgliche Aufkommen des bekrönenden Blattfächers über dem Zwickelzäpfchen kaum einen bestimmten Grund anzugeben AYüssten, wogegen das gelegentliche Fallenlassen des Fächers sich ganz gut motiviren lässt.
Es wurde schon bei Besprechung des Yolutenkelches (S. 61) darauf hingewiesen, dass die durch denselben zum Ausdruck gebrachte stren- gere Scheidung zwischen Kelch und Krone einer bestimmten künst- lerischen Empfindung entgegengekommen sein müsse, die namentlich in der Kunst des iSTeuen Reiches überaus maassgebend geworden ist. Hier ist nun der Platz, um die dort unterbrochene Erörterung dieses Punktes wieder aufzunehmen. Die angedeutete Empfindung verlangte, dass man den Ansatz, den Angriffspunkt eines in überwiegender Längen- ausdehnung verlaufenden Gegenstandes zu markiren suchte. Das ge- wöhnlichste Mittel hiezu bestand darin, den betreffenden Gegenstand aus einem Kelch oder einer Hülse von dreieckigen Blättern (die Avohl auch vom ältesten Lotusblüthen-Typus abzuleiten sind) am Ansätze hervorwachsen zu lassen. Die Säulenschäfte stecken mit ihrem unteren Ende gemeiniglich in solchen Hülsen (Fig. 15); auf das gleiche Grund- motiv gehen die Gruppen dreieckiger Blätter zurück, aus denen sich die Palmetten Fig. 16 und 19 erheben, und nicht anders ist die Bedeu- tung der ebensolchen Blätter am unteren Ende des Kapitals in Fig. 20 aufzufassen. Eine solche typische Blatthülse genügte dort, wo es sich um eine flache Ausführung (namentlich in Malerei) handelte; wo man dagegen einen Gegenstand aus hartem Material rund herauszuschnitzen hatte, da musste auch die zur Versinnbildlichung der erwähnten grund- legenden Empfindung ein für alle Mal gewählte Lotusblüthe ent- sprechende Formen annehmen. Nach dem auf S. 57 Gesagten ist es klar, dass sich hierzu besonders der Typus mit glockenförmigem (sogen. Papyrus-) Profil eignete. Daneben tritt in der Kunst des Neuen Reiches als bevorzugt der Volutenkelch auf-^). Ich halte nun dafür, dass diese Verwendung hauptsächlich das Fallenlassen des hindernden Blattfächers zur Folge gehabt hat: man Hess den Fächer zunächst an solchen Bei- spielen weg, wo der Volutenkelch als kunstsymbolische Hülse diente, und später, als man sich an das abgekürzte Motiv einmal gewöhnt hatte, übertrug man es auch auf die freien Endigungen, wie z. B. an
■^*) Beispiele für solche Verwendung beider Formen an Geräthen, Fächern, Geissein u. dgl. bei Lepsius ITT. 1 und 2.
Riegl, Stilfrageii. "
(3ß A. Altorientalisches.
dem Kapital aus Karnak (Fig. 20). In letzterem Falle war aber. Avenn schon der Fächer in Wegfall kam, der krönende Zapfen ein unimi- gäugliches Postulat des altegyiitischen Kunstsinns, und in der That ist mir kein Beisjüel eines frei endigenden egyptischen ^'olul^'nkelehs ohne zwickelfüllendem Zäpfchen bisher bekannt geworden --'i.
Der Hinwegfall des krönenden Fächers hat natürlich zur Folge gehabt, dass an dem abbreviirten Palmettenmotiv auch die Projektion in der halben Vollansicht vollständig unterdrückt worden ist. Es blieb bloss die Projektion des Kelchs in der Profilansicht, und in der That erscheint der frei endigende Volutenkelch in der Kunst des Neuen Eeiches vollständig gleichwerthig mit den fnilur betrachteten reinen Lotusblüthen-Typen in Seitenansicht (Fig. 7, 8). Die aus dreieckigen Blättern gebildete Hülse aber, die wir an Fig. IG und 10 neben den Voluten des Kelches wahrnehmen, braucht uns selbst dann nicht zu verwundern, wenn wir sie thatsächlicli als Pleonasmus gelten lassen Avollen, da die Ineinanderschachtelung von Kelchen, wie zahlreiche Beispiele, namentlich von gemalten Kapitalen, bcAveisen, gleichfalls einer bestimmten Tendenz der altegyptischen Kunst entgegenkommt.
Die gegebene Erklärung für die Ausbildung des Volutenmotivs in der altegyptischen Kunst gewinnt eine Aveitere Stütze durch den Um- stand, dass selbst das glockenförmige (das sogen. Papyrus-) Profil ge- legentlich beiderseits eine volutenartige Krümmung erfahren hat, und zwar überaus bezeichnendermaassen bloss an solchen Beis})ielen, wo das betreffende 3Iotiv als Ansatz für irgend einen Gegenstand (ein Ab- zeichen, Spiegel u. dergi.) dient 2").
Hiermit liaben wir die wichtigsten vegetabilischen Formen kennen gelernt, Avelche die altegyptische Kunst gebraucht und, Avie es allen Anschein hat, auch selbständig erfunden hat. Wir haben sie sämmt- lich, nach Goodyear's Vorgang auch den Papyrus, von dem echten egyptischen Lotus abgeleitet. Einige minder A\'ichtige Varianten dürfen wir hier ausser Betracht lassen; sofern dieselben dennoch .iiir dir. Fjitwicklung des l'fianzcnornaments ausserhalb Egyptens von irgend welchem Einflüsse gewesen sein könnten, Averden sie an JinA^eilig ge- (■i'_nictcr Strllc y.ur S])r;icl)e gebnicht Avcrden.
■•) l;if iiaiurgcinassc \ (■r^Tosscnuiy und Verlängerung', die das Zäi)rclicn in solchem Falle erlitt, scheint (Joodycar in ganz besonderem Maasse zu seiner Hypothese bestimmt zu lialx-n, darin nidits als eine umgekehrte Lotusknospe zu erblicken.
■•") Beispiele hei Goodyear YII. 2, ?,.
1. Eg-yptisches.
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Es obliegt uns nunmehr die Art und Weise festzustellen, in welcher die erörterten pflanzlichen Einzelmotive unter einander in Ver- bindung gebracht worden sind, sobald die Aufgabe herantrat, mit denselben, sei es bandartige Streifen, sei es grössere Flächen zu verzieren. Ueberaus häufig begegnet da die Verbindungslosigkeit, die einfache Xebeneinanderreihung wobei das künstlerische Motiv in der Alternirung von Blütheii und Knospen (Fig. 11), grossen ausladenden Fächern und kleinen spitz zulaufenden Zwischengliedern gelegen war. Solchermaassen gereihte Lotusblüthen und Knospen (oder Palmetten) eigneten sich wohl zur Verzierung eines fortlaufenden Bandes, etwa eines Gesimses, eines Frieses, einer Bordüre, minder dagegen zur Musterung einer grösseren Fläche, Avas schon durch die einseitige Richtung der Einzelmotive er- schwert wurde. Dagegen liess sich die Auskunft finden, dass man ZAvei
Fig. 21. Bordüre mit gegenübergestellten Reiben von Palmetten und Profil-Lotusblüthen.
solche Reihungen einander gegenüberstellte, so dass die eine Reihe in die Zwischenräume der anderen gegenüberstehenden zahnartig ein- griff. Die einseitige Richtung wurde dadurch paralysirt, und man konnte durch beliebige Wiederholung des Streifens eine beliebig grosse Fläche verzieren, ohne nach t:4ner Richtung hin zu Verstössen (Fig. 21). Im Grunde genommen kam man aber auch damit über eine blosse Streifenmusterung nicht hinaus.
Bei der einfachen verbindungslosen Reihung ist nun die Kunst des ISTeuen Reiches von Egypten nicht stehen geblieben: sie hat aucli die einzelnen Pflanzenmotive unter einander durch BoqenJinien verbunden. Betrachten wir den Bordürestreifen Fig. 22^°^). Wir sehen da Lotus- blüthen abwechselnd einmal mit Lotusknospen, das anderemal mit pal- mettenfächerartigen Varianten des Lotusprofils, wie sie die frei und
^'^^) Nach Prisse a- a. 0. Courounements et frises fleuronnees No. 6.
5*
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A. Altorientalisches.
imbeliindert schaltende Technik der "Wandmalerei ans der typischen Form heraus spielend erzeugt haben mochte: alle drei Motive aber untereinander verbunden durch rundbogenförmig" geschwungene Stengel. Es ist dies, die gefälligste Art von Verbindung zwischen Blüthenmotiven, Avelche die vorgriechischen Stile geschaffen haben, und nicht l)loss für die altorientalischen (^altegyptisch, assyrisch, phönikisch. persisch), sondern selbst noch für gewisse orientalisirende griechische Stile (rhodische, kyrenische Vasen) typisch. Die Alternirung dreier Motive, wobei in Folge der steten Wiederholung des einen (der Blüthe) bereits eine Art rhythmischer Gruppirung (von Knospe zu Knospe oder von kleinerer Blüthe zu kleinerer Blüthe) hergestellt erscheint, ist gleichfalls besonders zu vernun-ken. Dagegen sind die füllenden Rosetten und kleinen tropfentVinnigen Knospen fin der Reproduction
Hogenfries mit LotusblUthcu mid Kiiosiieii.
Fig. 22 weggelassen) ohne weitere Bedeutung für nnscren (Tcgenstand: ein malerischer Ueberscliwulst, durch den wir uns in der Fixirnng des Grundschemas nicht beirren lassen dürfen.
Ein solcher Bogenfries mit Pflanzenmotiven wies ebenso wie die blosse Reihung nur nach einer Seite, eignete sich somit in dieser Form wohl für Bordürstreifen, aber nicht für grössere Flächenfelder. Um ihn für letzteren Zweck verwendbar zu machen, Hess sich aber wieder dieselbe Auskunft treffen wie Ix'i der einfacluMi I»riliung durch Gegen- überstellung einer zweiteii in die erstere eingreifenden Reihe Fig. 23^').
"j Dieses Auskunt'tsniittcl entsprach zugleich einer bcstinuiiten niik-htigen TeiKlcnz des rein oniaincntalen Kunstschaft'ons, die sich namentlich in der ;,'-eonietrischcn Ornamentik in hohem Grade bemerkbar gemaclit liat: jedem ornamentalen Ek-mcmte ein womöglich congnientes Gegenüber zu geben. Auf solche Weise cntstan<l(5n die sogen, rcciproken Ornamente, unter denen der laufende Hund und der einfache Mäander die s:rö.sste Berühmtheit erlan"-t
1. Egyptisches.
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Noch eines vereinzelten Versuches, die ornamentalen Lotusmotive unter einander in Verbindung zu bringen, niuss hier gedacht werden, nicht zwar als ob es sich dabei um ein für die Fortentwicklung wich-
lunenmustei'ung aus gegenübergestellteu Bogenfriesen mit Palmetten und Profil-Lotusblüthen.
tiges Beispiel handeln würde, sondern nur vom Standpunkte des all- gemeinen Interesses, da Avir auch hieraus wieder ersehen, dass die Alt-
haben. Abel" auch die Gamma- und Taufiguren in ihrer wechselseitigen Ver- schränkuug in den Säumen gehen auf dasselbe Bestreben zurück, die Richtung eines Ornaments durch seine Wiederholung im Gegensinne aufzuheben. Mit geometrischen Ornamenten liess sich in der That die ganze Fläche einer Bordüre in solche zwei congruente Streifen zerlegen, die fortlaufend von oben und unten ineinandergriffen. Bei den vegetabilischen Ornamenten hatte dies natürlich seine Schwierigkeiten, und so begnügten sich die Altegypter dies- bezüglich mit der blossen Wiederholung der Motive im Gegensinne, wobei
das Problem, pflanzliche Motive in ein reciprokes Schema zu bringen, von der sogen, mauresken Kunst gelöst, was dann von den raaurisirenden euro- päischen Renaissancekünsten eine Zeitlang auf beschränktem Gebiete nach- geahmt wurde. Vgl. Spanische Aufnäharbeiten, in der Zeitschr. des bayr. KunstgCAverbevereins in München, Dec. 1892.
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A. Altoricntalisches.
egypter keineswegs starr bei ihren ursprünglichen Bildungen stehen geblieben sind, sondern auf verschiedenen Wegen getrachtet haben, die Verwendung der überkommenen Elemente mannigfaltiger und reicher zu gestalten. ' So sehen wir nämlich in Fig. 24 eine Art Ranke in Kreisform eingerollt und mit eben solchen fortlaufend durch Tangenten verbunden, von denen je eine Lotusblüthe und Knospe abzweigen. Die einzelnen Kreise sind mit Rosetten gefüllt. Das ganze Motiv er- innert in Folge der Verbindung mittels Tangenten an ähnliche Bildungen in der frühgriechischen Kunst, insbesondere im Dipylon, welch letztere aber lediglich geometrischer Natur sind und keinerlei vegetabilische Ele- mente tragen. Von der lebendig bewegten griechischen Ranke ist dieses steife einseitige Schema noch dnreli eine ganze "Welt getrennt.
Fig. 21. Jlankenartige Verbindung von Lotiisblütlun und Knospen.
Eine Vereinigung geschwungener Stengellinien mit Lotusblütlien 'in den verschiedenen Profilansiehten. die wir kennen gelernt haben) treffen wir ferner an dem nicht seltenen Geschlinge, das die l)eiden Reiche von Ober- und Unteregypten syml)olisiren soll, z. B. l)ei Lepsjus II. 120, III. 10. Der elegante Schwung der Linicm und die Gruppirung der Blüthen untereinander bietet uns in der Tliat eine Vorahnung dessen, was die Griechen später mit diesen — Avenn einmal frei bewegten — Motiven anzufangen wissen Averden. Aber die Bedeutung des in Rede stehenden Geschlinges Avar )iicht so sehr <ine ornamentale als eine gegenständliche und es hat sich auch dai-an, so \iel wir srlicii, keine weitere Entwicklung geknüpft.
Die \'erl»indung der gereiliten Lotus-Motive mitlels Hogeniinien hat in der Xatnr kein Voi'])ild, sie ist zweifellos eine rein ornamentale Erfindung. Wenn wir hinsichtlich der Stilisirung der Lotusblütlnui, die ja in der Mehrzahl der Typen, (insbesondere beim glockenförmigen und beim Volutenkelcli) der realen Ersclieinung der Lotusblüthe el)en-
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1. Egyptisches.
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falls nur in sehr geringem Maasse entsprechen, die Unzulängliehkeit einer vielfach noch primitiven, ohne belehrende Einflüsse von Aussen her aus sich selbst heraus schaffenden bildenden Kunst zur Mitver- antAvortung heranziehen dürfen, so fällt ein solcher Entschuldigungs- grund bei den verbindenden Bogenlinien hinweg: man hatte offenbar gar nicht die Absicht hierin bloss die Xatur zu kopiren, sondern man schuf sich aus besonderen Beweggründen — und diese konnten doch wohl nur rein künstlerischer Xatur sein — eine gefällig»' Verbindung zwischen den gereihten Blüthenmotiven : der altegyptisehe Bogenfries kann daher nichts Anderes gewesen sein als blosses Ornament''-).
Wir begegnen aber in der altegyptischen Kunst, insbesondere au Denkmälern aus der Zeit des Neuen Reiches, noch einem anderen Schema von Flächenverzierung, in welchem die verbindenden Ele- mente als das ]Maassgebende, Musterbildende erscheinen, die
Fig. 25. Spirale mit zwickelfüllenden LotusbUithen.
vegetabilischen Motive dagegen als das Untergeordnete, Acciden teile. Es sind dies jene Flächenverzierungen, denen das Motiv der Spirale zu Grunde liegt.
Die Spirale in der flächenverzierenden Kunst ist ursprünglicli ein rein lineares, also ein geometrisches Element. Wir werden weiter unten
*-) Das Gleiche könnte von einer anderen Art der Verbindung- von Lotus- motiven gelten. Man findet häufig die von einer Lotusblüthe bekrönten langen Schaftsteng-el mit kleinen tropfenförmigen Gebilden besetzt, denen augenscheinlich dasselbe Vorbild zu Grunde liegt, wie den tropf enförmig-en Zwickelfüllungen. Goodyear (S. 50) hat dieselben ohne Zögern für Lotus- knospen erklärt, aber zugleich auf den Widerspruch einer solchen Anbringung der Knospe längs des Schaftstengels mit der Wirklichkeit hingewiesen, da in der Xatur jede Knospe von einem selbständigen, aiis dem Wasser empor- ragenden Stengel getragen wird. Es bleibt sonach kaum Anderes übrig, als auch diese Art der Verbindung zwischen Knospen und Blüthe aus bloss deko- rativen Beweggründen heraus zu erklären. In diesem Falle nitn, sowie bei der Verbindung mittels Bogenlinien bilden immer die Blüthen- (oder Knospen-) Motive die Hauptsache, die verbindenden Linien die Nebensache, das Accidens
72 -^- Altorieiitalisches.
auscbeiuend primitive, von Aussen lier unbeeiiiflusste Künste zur Yer- gleichung heranziehen, die das Pflanzenornament gar nicht kennen, aber die Spirale in ausserordentlichem Maasse ausgebildet haben; es soll dann auch auf die vielerörterte Frage nach der Entstehung der Spirale mit einigen Worten eingegangen werden. "N'orerst wollen wir aber die Ai"t der Verwendung der Spirale in der altegyptischeu Kunst in Be- tracht ziehen. Das ursprüngliche Schema ist auch hier dasjenige des Streifens, der Bordüi'e, des Frieses (Fig. 25). Die Spirale rollt sich
Fig. 2ü. Innenmusterung mit Spiralen und zwickelfüllcndem Lotus.
ein und wieder aus; der Mittelpunkt wird im vorliegenden Falle deut- lich durch eine Rosette gekennzeichnet; ist das Ornament in kleinerem Maassstabe gehalten, namentlich an Metallgefässen, dann erscheint anstatt d<r viell)];ittrigcn Rosette ein blosser Kreis, das sogen. Auge. Die Zwickel , welch«- die ver1)ind<'nden Liitien mit der Peripherie der kreisförmigen Einrollungen bilden, sind mit deutliclicn Lotus- blüthen in l'votW ausgefüllt. Es leidet hiernach keinen Zweifel: das maassgebendc Verzierungselement ist hier die Spirale, dif lilüthenmoti ve sind dagegen lUosse Zuthaten, hervorgerufen durch das Postulat der Zwickclfülluncr.
1. Egyptisches.
73
Mittels der Spirale lassen sich aber auch ganze Flächen in zu- Sc-immenhängencler Weise verzieren. Ein einfacheres Beispiel zeigt Fig. 26. Zu Grunde liegt das Spiralenschema von Fig. 25, fortwährend neben einander wiederholt, aber so, dass die Einrollungen immer im Gegensinne geschehen, d. h. bei der einen Spii'ale rechts, wenn die benachbarte Spirale sich links einrollt. Das übrige besorgen die vegetabilischen Zwickelfüllungen, die aber nicht Avie in Fig. 25 in die Zwickel, Avelche die einzelnen Spiralen an sich tragen, eingefügt sind, sondern in die Zwickel, welche die Einrollungen von immer je zwei
Fig. 27. Innenmusterung mit Sxjiralen, zwickelfüUendem Lotus, und linkranien.
benachbarten Spiralen in Folge ihrer Annäherung an einander bilden. In diesem Falle sind also die Lotusblüthen nicht mehr blosse Z^vickel- füllungen, sondern sie dienen zugleich dazu, um die Verbindung zwischen den einzelnen Spiralen und damit ein zusammenhängendes Muster über die ganze Fläche hinweg herzustellen. Dass aber diese erhöhte Bedeutung der vegetabilischen Motive innerhalb des Spiralen- schemas nicht die ursprüngliche ist, und dass wir nach wie vor die geometrische Spirale als das Hauptmotiv dieser Art von Flächenver- zierung ansehen müssen, lehrt eben das einfachere Beispiel Fig. 25.
Ein noch reicheres Beispiel bietet Fig. 27. Die einzelnen Kreisein- rollungen sind hier in mehrfacher Weise untereinander verbunden, so
74 -^- Altorientalisches.
dass an jedem \n^e statt zweier Linien deren fünf znj^aniiui'iilanfen. Znr Zwick elfüllunii' sind neben Lotusblütlien ancli Knospen verwendet, Avas mit Kücksielit auf die Dentnnii' der Tropfenfüllungvn an den Volntenkelelien von Bedeutung- ist"^\
Wenn Avir an allen diesen Beispielen (Fig*. 25 — 27) das Element der Spirale als das Maassgebende, das vegetabilische Motiv dagegen als blosses zwickelfüllendes Accideus aufgefasst haben, so ist Goodyear in dieser Beziehung der gegentheiligen ^Icinung. Entsprechend der (ii'und- tendonz seines Buches, Avomöglicli alles antike Ornament aus der Ent- wicklnng des Lotusmotivs abzuleiten, will er auch die Spirale nicht als ein selbständiges Element, sondern nur .ils blosses Derivat vom Lotusmotiv gelten lassen. Den Ausgangspunkt hiefür erblickt er in den Voluten der Lotusblüthe mit A'olutenkeleh. Goodyear dünkt die Spirale nichts anderes, als eine \'olnte. ^'on solchem Gesichtspunkte betrachtet wären aber die Lotusblüthen in Fig. 25 — 27 niclii mehr blosse accidentelle Zwickelfüllungen, sondern sie müssten dann aucli in allen diesen Fällen für die Hauptmotive angesehen werden. Den Beweis liierfiir führt Goodyear^^) hauptsächlich an der Hand vuii Scarabäen: er konnnt hierbei zu dem Schlüsse, dass das Endresultat des Ausbildungs- und Ablösungs-Processes der Voluten in den concen- trischen Ringen vorliege. Dass Goodyear ausser Stande ist. den his- torisclii'u \'erlnuf des liezüglichen Processes an der Hand eines d,-itirien Materials durchzuführen, giel)t er sellist zu. Wir kennen l.)enkm;ilei- der Spiralornamentik liauptsäcidich ans dem Neuen Reiche: gewiss wird sie aber schon iin .Mten Reiche in umfassendem Gebrauclie goi.indeii sein, wenn auch die Belege dafür sehr gering an Zahl sind. Gleichwohl weiss Fliuders Petrie einen Scarabäus mit dem ausgebildeten Schema von Fig. 25 in die frühe Zeit der XL Dynastie zu datiren^'*). einen anderen ohne Zwick(?lfüllungen in die Zeil dei- A'. n\i):tstie. l'ine scheinl)are Rechtfertigung der Goodyear'sclien HyixUiiese liefern nur jene Beisfjiele, an den(Mi die Lotnsblfithen als Zwickelfüllnngen zwischen zwei sell)st;indigeii fjuroilungeii M-Mg. ".Nii fiingii'cn. welch letztere d.imi als Volntenkelch für die Blüthe aufgeiasst werden ktinntcii. (ierade an den einfachsten Beispielen aber (Fig. 25) schliesst sicli ;in die lulh-nde
^•^) Die Knliköpfo, sind ein geg-ciistäiulliches Symbol (der Jsis-Ibitlior; und werden von Goodyear u. A. als die frühesten \'orläurer der Hukranicn der griechLsch-römischen Dekorationskmist hczciclmet.
'*) S. 81 fl'., Taf. VIII.
'•'■) Bei Goodyear i'al. VIII. NO. 17.
1. Eg-\ptisches. 75
Zwickelblume immer jeweilig nur eiue Einrolluug als supponirte Volute an; das Fallenlassen der zweiten Volute erklärt sich Goodyear leichten Herzens so, dass es eben nicht anders möglich war, wenn man ein fort- laufendes Muster von zusammenhängenden Lotusblüthen herstellen AvoUte. Dass aber die Altegypter mit ihren typischen und hieratischen Mustern gar so willkürlich umgesprungen wären, um nur einen untergeordneten dekorativen Zweck zu erreichen, dafür bleibt Goodyear den NacliAveis schuldig und dies ist wohl auch der Punkt, an dem seine Beweisführung scheitert.
Das Material aus den Stadien früherer Entwicklung, das Goodyear für seine Beweisführung fehlt, lässt auch uns im Stiche, Avenn wir unsere Erklärung an der Hand von Denkmälern belegen wollten. Aber wir sind wenigstens im Stande analoge Erscheinungen von anerkannt primitivem Kunstgebiete her beizubringen, aus deren Betrachtung sich die für unsere bezügliche Erklärung grundlegenden zwei Thatsachen ergeben werden: erstens, dass dem Element der Spirale in primitiven Kunststilen ein rein geometrischer Charakter innewohnt, und zweitens, dass das Postulat der ZAvickelfüllung in denselben pi-imitiven Kunst- stilen als ein sehr Avichtiges und maassgebendes empfunden AA'urde.
Ein solches primitives Kunstgebiet ist dasjenige, das die Europäer bei den Eingeborenen Neuseelands, bei den Maori, vorgefunden haben. Heute ist diese Kunst unter europäischem Einflüsse allerdings schon so gut Avie zu Grunde gegangen; aber man hat rechtzeitig Denkmäler der- selben in genügender Anzahl in europäische Museen zu retten gcAA^usst. Eine sehr bedeutende und lehrreiche Collektion, die der österreichische Reisende Andreas Reischek zusammengebracht hat, ist in das Wiener naturhistorische Hofmuseum gelangt. Das Studium dieser Sammlung ergiebt in Bezug auf die Ornamentik ein festgeschlossenes und abgerun- detes, aber doch von Allem Avas wir sonst an Künsten der Naturvölker kennen, eigenthümlich abweichendes Bild, yvie es kaum anders zu er- klären ist, als unter Annahme einer lang andauernden, selbständigen, auf ihren eigenen Spuren einhergegangenen Entwicklung. Dazu kommt, dass Neuseeland kein Metall besitzt, seine Eingeborenen daher auf den Gebrauch \"on Steingeräthen angewiesen AA'aren, in deren Herstellung sie eine überaus grosse Geschicklichkeit erwarben. Wären die Maori in der That, wie Einzelne (darunter begreiflichermaassen auch Goodyear) annehmen möchten, mit der malayischen Kulturwelt in Verbindung gestanden, so Aväre es kaum denkbar, dass nicht ab und zu Metall- geräthe auf die Inseln gekommen Avären. MöglicherAveise haben auch
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A. Altorientalisches.
die Maori vor Zeiten, bevor sie ciuf Xeuscclaiul isolirt wurden, den Gebrauch der Metalle gekannt: denkbar wäre dies immerbin. Aber dann müsste seither ein sehr beträchtlicher Zeitraum verflossen sein, wie wir ihn für das Zustandekommen einer so festgesehlosscMien „Stein- zeif'-Kultnr unbedingt voraussetzen müssen.
Angesichts der vielen durch sei es stabilen, sei es zufälligen Handels- verkehr vermittelten Beeinflussungen, die es uns in der Eegcl so schwer machen an den Kunstübungen lu-iniitiver Völker das wirklich Autoch- thone, Urabgekonimene- von dt-m Hinzugetragenen, dureli ^lischung Er-
Fig. 28. Tbeil eines ilurchbrocheueu Canocschiiabcls der Maori.
zeugteil ZU sclieiden, ist es schon ein nngeliciircr Gewinn ein Gebiet zu überblicken, das verrauthlich seit Jahrtansenden eine von Aussen unbeeinflusste, ganz selbständige Entwiekhuig genonmicn hat^'').
Da ist es nun vom grössten Interesse zu sehen, dass in der Orna- m(;ntik der Maori die Spirale eine überaus maassgebende Rolle spielt. Sie findet sich da in Holz mittels Kerbschnitt eingearbeitet, dann in Holz durchbrochen, sodass man ein Metallgitler zu sehen wähnt (Kig. 28), ferner in nussartige Fruclitsclialeii gravirt iTig. -JI»;, wo sich ilie Spirale
^*) Vergl. die Notiz über Neusceländi.sclic Oniaiiiciitik in den Mittheilung-cii der anthropologi.schen Gesellschaft in Wien 1.S90, 8. Sl tV. TTieians unsere Figg. 28, 2!J, :}0.
1. Egyptisclies.
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bandförmig glatt von dem scliraffirten und durch den eingedrungenen Schmutz geschwärzten Grunde abhebt, endlich in Stein eingegraben und dann öfters von eingeschlagenen Punkten begleitet (Fig. 30). Diese Spirale erweist sich als nächstverwandt mit der altegyptischen durch den Umstand, dass sie sich, so wie diese, in kreisförmigem Schwünge erst ein- und dann vom Mittelpunkte wieder herausrollt. In den grossen Seitenfüllungen der Canoes (Fig. 28) beschreibt jede Spirale eine grössere Anzahl von Windungen , bis im innersten Mittelpunkte die ein- und die ausrollende Spirallinie aneinander absetzen: man sehe aber auf der- selben Figur die äusserste Windung rechts, wo die eingeschnitzten
Fig. 29. Gravirung auf einer Fruchtschale der Maori.
Flg. 30.
Gravirung an
einem Netzsenker der Maori
Spiraleinrollungen bloss durch Tangenten untereinander verbunden sind: also im Wesentlichen das altegyptische Schema von Fig. 25. Diese selbe Windung stellt ein schmales Bordürenband dar: die Zwickel, Avelche die Einrollungen mit den Rändern des Bandes bilden, sind durch drei- eckige Figuren oder durch gebrochene Stäbchen ausgefüllt. Hierin äussert sich also vollends der enge Zusammenhang mit Fig. 25, nur dienen an letzterem Beispiele vegetabilische Lotusblüthen zur Zwickel- füllung, w^ährend an der neuseeländischen Schnitzerei zu diesem Zwecke gemäss dem ausschliesslich geometrischen Charakter dieser Ornamentik blosse Linienconfigurationen herangezogen erscheinen.
Es gilt nun zu untersuchen, ob die Ausbildung der Spiralorna- mentik bei den Neuseeländern in einer mit der altegyptischen nahe
78 A. Altorientalisches.
verwandten Kiohtung- nicht etwa ans; änssereu Gründen erfolgt sein könne. Gelänge es nachzuweisen, dass die neuseeländische Spirale in Folge bestimiuter, rein technischer NothAvendigkeiten , in Folge eines daselbst gegebenen Materials, oder irgend eines anderen materiellen Zwanges entstanden ist und ihre hohe Ausbildung erlangt hat, so niüsste untersticht Averden, ob die gleichen Verhältnisse nicht auch bei den Altegypteru zutrafen. Es ist aber i'ine ausserordentlich bemerkens- Averthe Thatsache, dass gerade für die neuseeländische Spirale die gemeinüblichen Ableitungen dieses MotiA's aus rein technischen Ur- spilingen versagen. Die Spirale gilt einmal als ein typisches Metall- ornanient (Drahtspirale), auf Neuseeland giebt es aber kein Metall und daher auch keinen Metalldraht. Gottfried Semper (Stil. I. IG?) scheint Aviederum das suggerirende Element der Spirale in der Drehung des textilen Fadens erblickt zu haben: auch zur Herstellung eines textilen Fadens haben es die Maori nicht gebracht. Ebenso A^ermissen Avir auf Neuseeland Lederriemen, die durch ihre Zusammenrollung dem Maori die formale Schönheit des Spiralenmotivs hätten A^ermitteln können. Wohl giebt es und gab es bei ihnen Flechtwerke, die sich aus einem Mittel- punkt«' entwickeln, und an denen die keineswegs besonders augen- fällige Spiral Windung mit einigem guten AVillen herausgebracht werden kann. Und auf diese Avollte man im Ernste die gesammte Spiraloriia- mentik der Maori zurückführen? Gerade das harte Material, Holz und Stein, ist es unbegreiflicherAveise, das sich die Maori ausgesucht haben, um in dasselbe mit ihren ObsidianAverkzeugen unter Aufwendung un- säglicher Mühe ihre Spiralornamente einzugraben. Einen Untergrund allerdings verwe-ndeten sie liiefür, der diesem Processe Aveniger Wider- stand entgegensetzte: ihre eigene Körperhaut; aber auch diese hat Aveder mit nn-tallischem noch mit textilem Charakter irgend etAvas zu thun. Die zierlichsten und kunstvollsten Spiralwindungen finden sich in den Täto wirungen; zum Belege hiefür mögen Fig. 31 und 32 dienen, die aus Lubbock's „Entstehung der Civilisation" entlehnt sind. Eine solche Eilt Wicklung der Spiralornamentik müsstc uns selbst dann i-iUhscl- liaft erscheinen, Aveini Avir die Gewissheit besässen, dass die Maori vor- mals die Kenntniss der Metalle und des Dralitzielicns besessen liaben. Gerade dieses Beisjjiel sagt uns vielmehr (eindringlich, dass es keines- Avegs technisclie Vorgänge gcAvesen sein müssen, die bei der Urzeugung der Motive die maassgebende Kolle gespielt halx'ii^^).
''; Eine sehr Iclirrciche und ühcr.sicht liehe ZusanimenstoUiing- der mannig- fachen Verwendung.sarten der Si»irale in der Kunst gab A. Andel im Pro-
1. Egyptisches.
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Fassen "svir dagegen die Spirale als geometrisches Kunstgebilde, hervorgebracht auf dem "Wege rein künstlerischen Schaffens, im Sinne unserer Ausführungen im ersten Capitel S. 24. Wir fragen alsdann nicht nach Naturerzeugnissen oder Produkten technischer Kunstfertigkeit, welche zur Erfindung des Spiralenmotivs geführt haben mochten, son- dern nach der Ucächst einfacheren geometrischen Form, aus welcher die Spirale im Wege künstlerischer Fortl^ldung hervorgegangen sein konnte. Unter den planimetrischen Grundmotiven steht ihr der Kreis am nächsten. Der Kreis ist das vollkommenste aller planimetrischen Geljilde, er er- füllt das Postulat der Symmetrie nach allen Seiten liin. Dies allein
Fig. 3J
würde schon genügen den Umstand zu erklären, dass der Kreis weit- verbreitete AnAvendung in den geometrischen Stilen gefunden hat. Die Gliederung des Kreises erfolgte am vollkommensten durch seinesgleichen, in koncentrischer Eichtung, durch eingeschriebene kleinere Kreise oder durch Betonung des Mittelpunkts. Setzte man Kreise unter einander mittels der Linie in Verbindung, so war das Element der Tangente geschaffen, Koncentrische Kreise, durch Tangenten verbunden, stehen aber dem einfachen Spiralenband (Fig. 25) in der äusseren Erscheinung bereits sehr nahe: wollte man dieselben mit einem fortlaufenden Zuge hinzeichnen, so brauchte man bloss die Tangente in den äusseren Kreis,
g-ramm der k. k. Staats-Unterrealschule zu Graz 1892: Die Spirale in der dekorativen Kirnst.
80 -^- Altorientalisches.
diesen in den näclistinneivn und so Aveiter übcrzuseldeifen. um dann vom Mittelpunkte heraus wieder in die nächstfolgende Tangente über- zugehen. Freilich ist diese Entwicklungsreihe a priori konstruirt und bedarf erst des Beleges an der Hand von erhaltenen Denkmälern. Aber die üebersicht von Tal". VIII bei Goodyear. AV(>lelie diese Eeilie — freilich leider ohne eiue gesicherte chronologische Ordnung^ lückenlos herstellt, wird manchem Beschauer den geschilderten Entwicklungsgang weit natürlicher erscheinen lassen, als den umgekehrten, Avelchen Good- year annimmt, wonach die Spirale als vegetabilisches Motiv (der Voluten- kelch der Lotusblüthe) das Ursprüngliche gewesen Aväre, und im Wege der schrittweisen Denaturirung und Geometrisirung allmälig zum blossen linearen Kreise mit mittlerem Punkte zusammengeschrumpft wäre.
Um nun kein Missverständniss aufkommen zu lassen, Avill ich gleich ausdrücklich erklären, dass ich die eben versuchte Ableitung der Spirale aus dem Kreisornamente keineswegs für die einzig mögliche, und darum für eine zwingende halte. Es war mir auch nicht so sehr darum zu thun, die überzahlreichen im Schwange befindliehen Erklärungsversuche für die Spirale und dergleichen allgemeine und uralte Ornamente um einen neuen zu vermehren. Meine Absicht ging vielmehr dahin, dar- zuthun, dass eine solche Erklärung — Avenn sie schon geliefert werden soll — nicht bloss an eine primitive Technik, oder'^m bestimmte, wenig bedeutsame Naturvorl)ilder anzuknüiifen braucht, sondern, dass dieselbe auch auf ornament-entAvicklungsgeschichtlicliem Wege durchgeführt werden kann, womit wir Avenigstens weit mehr auf dem ureigenen Boden der Kunst bleiben, als mit der Citirung irgend einer todten Technik oder einer leeren Abschreibung der Natur, und zwar von solchen Erzeugnissen der Natur, die bei ihrer geringen Bedeutsamkeit dem primitiven Menschen gar nicht aufgefallen sein können ^^\
Der Vollständigkeit halber muss hier auch der Stübcrselicn llv]'"- these (üeber altperuanische Gewebemuster etc., in der l'\'stscln-ift des Vereins f. Erdkunde in Dresden 1888) gedacht werden, die insofern der vorhin versuchsweise gegebenen Ableitung des Spiralenmotivs nahe kommt, als auch Stübel hiel)ei von den koncentrlschen Kreisen ausge- gangen ist. Aber auf so zufällige Weise wie das Zusannnenbringcn von bemalten Thonscherben oder das Zusammennähen gemusterter Stoffe, pflegen Ornamente nicht zu entstehen, und am .illei-wenigsten solche, die
'") Die ihnen gefährliclieii edcr niitzliclieii Tiiierc IliIkmi die 'rroglodvten wohl nachgebildet. al>er k(;in(! spirali^i-en l{e))rankoii, uml gewiss ;uicli uiclit Geflechte, wenn si(! deren überlian])t besessen hätten.
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über den ganzen Erdbcill ^'e^brc'ituno• gefunden haben. Uebrigens wird Niemand, der sich für die Geschichte des geometrischen Ornaments interessirt, den Stübel'schen Aufsatz ohne Interesse und Nutzen lesen.
Von anderer Seite hat Prof. A. R. Hein in Wien in einer jüngst erschienenen Schrift über „Mäander, Kreuze, Hakenkreuze und ur- motivische Wirbeloniamente in Amerika" (Wien, A. Holder, 1891) den in Rede stehenden Gegenstand berührt, indem er darauf liinwies, dass einer ganzen Reihe weitverbreiteter primitiver Ornamentformen (z. B. dem Hakenkreuz) die Tendenz innezuwohnen scheint, den Begriff des Rotirens, d. h. SichbcAvegens im Kreise sinnfällig zu machen. Diese Tendenz liegt augenscheinlich auch der Spirale zu Grunde, und es ist völlig denkbar, dass der Symbolismus gewisser Völker und Zeiten älin- liche Vorstellungen mit der Spirale verknüpft hat. Dass aber der An- stoss zur ersten Entstehung des Spiral emnotivs nach dieser Seite zu suchen wäre, glaubt wohl auch A. R. Hein (der übrigens die Spirale als solche in seine Betrachtung nicht einbezogen hat) nicht annehmen zu sollen, da er es (S. 28) ausdrücklich als seine Ueberzeugung be- zeichnet, dass die Symbolik die schon vorhandenen (geometrischen) Formen lediglich für ihre Zwecke adoptirt hat^^).
Um also das Vorhandensein des Spiralenmotivs in der altegyptischen Kunst zu erklären, bedarf es keineswegs des Volutenkelchs der Lotus- blüthe als Ausgangspunktes, sondern wir dürfen dasselbe ebenso wie das Zickzack, die koncentrischen Ringe (welche Motive Goodyear aller- dings beide auf die Lotusblüthe zurückführt), das Schachbrettmuster u. s. w. als geometrische Motive einer von früherher überkommenen Schmückungskunst ansehen , als welche dieselben Motive in den zweifellos geometrischen Ornamentstilen anderer, bei rudimentären Kunstzuständen verbliebener Völker, insbesondere der Maori auf Neu- seeland entgegentreten. Und das Gleiche gilt von dem Postulat der Zwickelfüllung, das wir in der Kunst der Neuseeländer in ähnlicher Weise beobachtet sahen, wie in der altegyptischen Kunst. Zum Beweise dessen wurde bereits auf die äusserste Windung in Fig. 28 hingewiesen. Man beobachte ferner in Fig. 31 und 32 die Tätowirungeu der Nase;
^^) Auch darin ist diesem Autor zuzustimmen, wenn er die „Erfindung der Formen zunächst in der künstlerischen Anlag'e des Menschen und in dem Drang-e nach einer Bethätigung- des Kunsttriebes begründet" ansieht, doch geräth derselbe wenige Zeilen darauf in Widerspruch mit dem eben Gesagten wenn er das Citat: „geometric ornament is the offspring of technique" in seiner absoluten Fassung sich zu eigen macht.
Riegl, Stilfragen. 6
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in die Zwickel der dieselbe schmückenden Spiralen sind beiderseits füllende Schraffirungen eingezeichnet. Die Art und Weise die Spiralen- zwickel mittels .Schraffen zu füllen, ist — wie ich gleich hier vor- bemerken will — auch der mykenischen Kunst sehr geläufig; bei Be- sprechung des Pflanzenornaments in dieser letzteren Kunst Avird auch auf diesen Umstand zurückzukommen sein.
Hier am Schlüsse unserer Betrachtungen über die Errungenschaften der Altegj'pter in der Heranziehung der Pflanze zu reinen Schmückungs- zwecken erscheint es wohl angebracht, einige allgemeine Worte über Stellung und Bedeutung der altegyptischen Kunst innerhalb der Ge- schichte der dekorativen Künste überhaupt anzufügen. Soweit wir zu sehen vermögen, ist die altegyptischc Kunst die erste gewesen, die Elemente von unzweifelhaft pflanzlichem Charakter unter die reinen Zierformen aufgenommen hat. Hat sie diesbezüglich eine Vorgängerin gehabt, so müssen die Spuren des Daseins dieser letzteren vollständig ausgelöscht worden sein; bis jetzt wenigstens sind solche nicht zu Stande gebracht worden. Dagegen haben Avir im Capitel über den geometrischen Stil (S. 16 flP.) primitive Künste aus verhältnissmässig frühen Kulturperioden der Menschheit in der Hinterlassenschaft der aqui- tanischen Höhlenbewohner kennen gelernt, die Avir somit bis zu einem gewissen Grade als Maassstab für die Bourtheilung der EntAvicklung der dekorativen Künste bei dem ältesten uns bekannt gewordenen Kulturvolk, bei den Egyptem, benützen können. Welche Bedeutung hat nun das Kunstschaff"en der Egypter für die Entwicklung der dekora- tiven Künste im Allgemeinen gehabt?
Diesbezüglich führt die Betrachtung der altegyptischen Künste zu einem sehr widerspruchsvollen Ergebniss. Die Egypter haben zwar ornamentale Typen von, so zu sagen, ewiger Geltung geschaöen, aber es drängt sich jeweilig sofort die Bemerkung auf, um wie viel besser es späterhin Andere gemacht haben, und zwar nicht erst die gottbegnadeten Hellenen, sondern selbst schon die Assyrer und die Phönikor. Besonders augenfällig tritt ein anscheinender Mangel an natürlielier Begaluing für dekoratives Kunstschaffen an den Bordüren zu 'l\ige, deren Ver- liältniss zu den eingerahmten Innenflächen mit seltenen Ansnahmen kein glücklich gewähltes ist. Noch Avenigcr erscheinen die Ecklüsungen gelungen; das Auge wird von diesen häufig geradezu unangenehm betroffen. Auch die an Zahl vorwiegenden geometrischen Muster in den schmalen Bordüren dcnten auf eine Vernachlässigung dieser Seite des Kunstschafl'ens. Gieichermaassen spielt in der altegyptischen Keramik
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der einfache geometrische Dekor die überwiegende Rolle. Allerdings kann man auch häufig die menschliche Figur zu blossen Schmückungs- zwecken herangezogen sehen, doch wird uns dieser Umstand nicht mehr so üben'aschen, seitdem wir gesehen haben, dass die plastische Wieder- gabe von Naturwesen zu ornamentalen Zwecken dem Menschen bereits auf der Kulturstufe der Troglodyten eigen war. Das Können dieser letzteren blieb zwar hinter demjenigen der Egypter um ein Erkleck- liches zurück, aber im Kunstw^ollen war der Abstand keineswegs ein unüberbrückbarer. Die Verwendung der menschlichen Figur in Rund- W'Crk zu einem Löffel-Handgrifl" ist nicht wesentlich höher zu stellen, als diejenige eines Rennthiers zu ähnlichem Zwecke, namentlich wenn dies in so kunstverständiger Weise geschehen ist, wie wir es in Fig. 1 kennen gelernt haben.
Man könnte aus dem Gesagten die Berechtigung ableiten, den Alt- egyptern in Bezug auf die Entwicklung der dekorativen Künste nicht ein so entschiedenes Hinausschreiten über die Kunststufe der Troglo- dyten zuzubilligen, als man es nach anscheinend so fundamentalen Leistungen wie die Schaffung von pflanzlichen Ornamenttypen, erwarten dürfte. Ein solches Urtheil wäre aber ein einseitiges; um jener Er- scheinung wirklich gerecht zu werden, muss man die Stellung der alt- egyptischen Kunst in der Kunstgeschichte überhaupt in's Auge fassen. Da neigt sich die Wage sofort zu Gunsten der Egypter. Die egyptische Kunst hatte sich eben — die Erste soviel wir wissen — Aufgaben ge- stellt, die weit über die Befriedigung eines blossen Schmückungstriebes hinausgingen. Die Kunst der alten Egypter war im Wesent- lichen von gegenständlicher Bedeutung. Das Kunstschaffen hatte bei ihnen nicht mehr bloss den Zweck des Schmückens, seine vornehmste Bestimmung lag vielmehr darin, Empfindungen, Stimmungen, Vorstellungen Ausdruck zu geben, die mit der reinen Freude am Schönen nichts Unmittelbares gemeinsam hatten: ich verweise hiefür bloss auf die umfassende Verwendung der Kunst im egyptischen Sepulkralwesen. Wenn wir in dem Aufkommen solcher Anforderungen an das Kunst- schaffen zweifellos das Zeugniss einer höheren, vollkommeneren Kultur- stufe zu erblicken haben, so sind die Egypter, so viel wir sehen, die Ersten gewesen, denen es gelungen ist, sich zu dieser Kulturstufe empor- zuschwingen.
Die künstlerischen Aufgaben, die den Egypteni aus den also ver- änderten und gesteigerten Kulturverhältnissen erwuchsen, waren so hochgespannte, die Schwierigkeiten ihrer Lösung mit Rücksicht auf das
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Fellleu aller und jeg'licher Vorbilder so bedeutende, dass den bezüg- lichen Versuchen und Bestrebungen gegenüber alles Andere in den Hintergrand tretfen musste. Der naive Horror vacui, der alle Flächen mit buntem Schmucke überzieht, und der abgeklärte Kunstsinn, der das Höchste, das Göttliche, in sinnlichen Formen darzustellen sich be- müht, sie sind beide ursprünglich durch eine ganze Welt getrennt. Eeligiüse und politische Ideen waren es, von denen die Egypter bei ihrem Kunstschaffen erfüllt waren: das rein Dekorative, bloss der Schmuckfreudigkeit Genügende, konnte sie nur in Aveit minderem Grade beschäftigen.
In weit minderem Grade ! Es wäre aber viel zu weit gegangen, wenn man behaupten wollte, dass das Reinornamentale die Egypter überhaupt niclit l)eschäftigt hat. Die Lotustypen sind geAviss ursprüng- lich nicht als Ornamente, sondern um der gegenständlichen Bedeutung willen, die dem Lotus in den Kulturvorstellungen der Egypter zukam, von den cgyptischen Künstlern auf die Wände der Grabkammern ge- meisselt und gemalt, oder als Eundwerk in Stein gehauen worden. Aber ebenso gewiss haben dieselben Typen auch schon bei den Egyp- tern des Alten Reiches um ihrer formalen Schönheit willen auf Schmuck- sachen und Gebrauchsgeräth ihren Platz gefunden. Es hiesse den ganzen Reichthum künstlerisch ausgestatteter Kleinsachen übersehen, die uns die Gräber aus der Pharaonenzeit bewahrt haben, wenn nuin den Egyptern allen Sinn für gefälligen Schmuck um seiner selbst willen absprechen wollte. Dieses Volk hat zweifellos schon selbst versucht, zwischen den beiden extremen Polen im Kunstschaffen einen Ausgleich zu finden: einerseits dem auf Schaffang einer blossen Augenweide ab- zielenden Schmückungstriobe, anderseits dem Bestreben, den bedeut- samsten Ideen und Empfindungen der Menschen sinnlichen Ausdruck zu leihen. Die Egypter waren ja die Ersten, so viel wir sehen, die sich zwischen diese beiden Pole gesetzt fanden. Dass nicht sie es auch waren, die eine endgiltig befriedigende Lösung gefunden haben, wird man ihnen kaum verdenken können. Wie der Leistungsfähigkeit der Individuen eine Grenze gesetzt ist, so scheint dasselbe bei den Völkern der Fall zu sein. Und der grossen grundlegenden Leistungen in der Kunstgeschichte haben die Egypter doch genug aufzuweisen, so dass man die Erschöpfung begreift, die es ihnen schliesslich unmöglich ge- macht hat, das Ziel zu erreichen, an das erst die Hellenen gekommen sind: Formschönes und inhaltlich Bedeutsames in harmonischer Weise mit einander zu verschmelzen, mit Bedeutung gefällig zu sein.
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Dieser Punkt ist zu wiclitig, als dass es ungereclitfertigt erscheinen könnte noch einen Augenblick dabei zu verweilen. Zum besseren Ver- ständnisse desselben will ich noch eine Parallele dazu von einem anderen, ganz bestimmten Kunstgebiete beibringen. Die Altegypter waren unseres Wissens auch die Ersten, die eine wahrhaft monumentale Baukunst gepflegt haben. Die Voraussetzung für eine solche ist die Verwendung unvergänglichen Materials: des Steins oder seines Surro- gats, des Ziegels. Die Egypter haben nun ihre Tempel bereits in Stein ausgeführt — Tempel von solcher Dauerhaftigkeit, dass sie, wie bekannt, vielfach noch bis auf den heutigen Tag aufrecht stehen geblieben sind. Die Erfindung des Steinbaues war eine höchst respektable technische Leistung, aber auch von künstlerischem Standpunkte muss uns der egyptische Säulensaal mit steinerner Decke, als am x\nfange aller monu- mentalen Architektur stehend, als eine für den ersten Anlauf höchst bedeutsame Errungenschaft erscheinen. Seine künstlerischen Qualitäten verräth der egyptische Tempel aber im Wesentlichen bloss im Innern: die einfach geböschten massiven Aussenmauern entbehren — mit Aus- nahme der mehr äusserlich angefügten Frontbeigaben — fast jeder künstlerischen Behandlung. Den Ausgleich, für den auch die Meso- potamier — auf anderen Wegen suchend — noch keine völlig befrie- digende Formel gefunden haben, wurde erst von den Hellenen zu Stande gebracht, indem sie dem Säulenbau auch im Aeusseren, nach der rein formellen Seite, jene harmonische Durchbildung zu verleihen wussten, dass der hellenische Tempel als unvergleichliche künstlerische Einheit, und als solche als Unicum in der ganzen bisherigen Kunstgeschichte dasteht. Das Gleiche lässt sich nun auch auf dem Gebiete der dekora- tiven Künste wahrnehmen, auf dem die Formen hauptsächlich „gefällig" sein sollen, und die „Bedeutung" wenigstens um ihrer selbst willen in der Regel nicht gesucht wird. Auch die Ornamentik dankt den Hel- lenen die reifste Durchbildung im Sinne des Formschönen, unter gleich- zeitiger Heranziehung inhaltlich bedeutsamer Formen, die sich aber den maassgebenden dekorativen Anforderungen stets gefällig unterzuordnen, anzuschmiegen wissen. Den Egyptern konnte es nicht vergönnt sein, es auch noch zu dieser Vollkommenheit zu bringen; sie hatten reich- lich ihr Tagewerk gethan, und mussten jüngeren, ungenutzten Volks- kräften die Fortführung des Begonnenen überlassen. Es wird nun eine überaus lehrreiche Erscheinung sein zu beobachten, wie die altorien- talischen Kulturvölker, die allem Anscheine nach von den Egyptern den entscheidenden Anstoss zu ihrem ferneren Kunstschaffen erhalten
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haben, auf den Schultern ihrer Lehrmeister emporsteigen, und die Orna- mentik in der Eichtung, die sie schliesslich bei den Griechen genommen hat, zwar langsam aber stetig fortentwickeln. Die grossen, übermäch- tigen Aufgaben, die der egyptischen Kunst aus der Inanspruchnahme durch Religion und Politik erwachsen Avaren, sie waren zwar auch für die nachfolgenden orientalischen Völker vorhanden, aber doch in weit minderem Grade. Wir werden sofort sehen, in welchem Maasse gleich die nächsten Gründer einer orientalischen "Weltmonarchie nach den Egyptern, die Mesopotamier, über die ornamentalen Leistungen ihrer Vorgänger hinausgeschritten sind.
2. Mesopotamisclies.
Die Zweitälteste Kultur und Kun^l, die in der Geschichte des Alten Orients nachweislich von Aveitreichender Bedeutung gcAvesen ist, hat in Mesopotamien ihren Sitz gehabt. Leider stammen die Denk- mäler, die uns von dieser Kunst erhalten sind, fast ausschliesslich erst aus der verhältnissmässig späten Zeit der Assyrerherrschaft. Was vor dem Jahre Eintausend v. Ch. liegt, darüber haben wir mir unzu- reichende Kunde auf Grund sehr vereinzelter Denkmäler, deren älteste kaum in die Zeit der Thutmessiden, also des in der egyptischen Ge- schichte verhältnissmässig späten Neuen tlu'banischcn Reiches zurück- gehen. Wir vermögen daher nicht einmal vollkonmien sicher zu ent- scheiden, in wieweit die Chaldäer, also die Bewohner des unteren Euphrat-Tigris-Landes, in der That, wie man allgemein vermuthet, die ersten Begründer einer höheren Kultur und Kunst in dem ganzen gi'ossen mesopotamischen Stromgebiete gewesen sind. Wenn daher im Folgenden von assyrischer Ornamentik die Rede sein Avird, so bleibt hiebei ausdrücklich die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit vorbehalten, dass die Ehre der Errungenschaften dieser Kunst den Ghaldäern, vielleicht wenigstens zum Thcil auch den Elamiten, zugeschrieben wer- den müsste.
I'.s kann liier njclit dei' Platz sein, die Bedeutung der assyrischen Kun.st für den Entwicklungsgang der Ornamentik in voll entsprechen- dem Maasse zu würdigen. Es Aväre hiefür vor Allem nothwendig, das Verhältniss d«-r Menschen- und Tliiertigur zur Orii.iiiientik 1)ei den .Vssyrern klarzustellen; einzelnes l)i(;rauf Bezügliches hat übi-igens im Oapitel über den Wa])i)enstil Erörterung gefunden. Aber das muss im -Mlgemeiueu naclidrücklich hervorgehoben wcrdiii, dass wir in der
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assyrischen Kunst zuerst die für die spätere Entwicklung- der Künste bei den Mittelmeervölkern*") so fundamentale Scheidung zwischen Bordüre und Decke, Rahmen und Fül- lung", statisch Funktionirendem und statisch Indifferentem in mehr oder minder bewusster Weise durchg-eführt sehen. Audi bei den Egyptern gewahren wir die figürlichen Darstellungen in der Fläche von Säumen eingefasst, doch sind diese Säume, mit sehr geringen Ausnahmen, von höchst einfacher Musterung, die sich im Wesentlichen bloss auf gereihte Stäbchen oder auf Zickzacklinien*') beschränkt. In ganz besonders bezeichnender Weise äussert sich diese schwache Seite des ornamentalen Sinnes bei den Egyptern an den- jenigen Stellen, wo zwei Säume unter einem rechten Winkel aufein- anderstossen, wo es sich also um eine Ecklösung handelt. Häufig sind beide auf einander stossende Säume ungleich gemustert und laufen sich einer an dem anderen todt*^). Bei den Assyrern gewahren wir dagegen zum ersten Male ein konsequent durchgeführtes System einer gleichmässigen Umrahmung, unter Berücksichtigung einer künstlerisch befriedigenden Ecklösung*^). Damit steht in engstem Zusammenhange der Umstand, dass die Assyrer jene Anläufe, die die Egypter mit dem vegetabilischen Element und mit den Versuchen einer gefälligen Ver- bindung desselben gemacht hatten, ihrerseits mit Entschiedenheit auf- genommen und in weit umfassenderer und bestimmterer Weise zur An- wendung gebracht haben.
Die Elemente der assyrischen Pflanzeuornamentik Avurzeln in der egyptischen. Ich sehe wenigstens nirgends eine Nöthigung vorhanden, um mit Sybel annehmen zu müssen, dass das in der Kunst des Neuen
*") Zu den Mittelmeervölkern in kulturhistorischem Sinne müssen wir auch die Bewohner Mesopotamiens und Irans zählen, da sie allezeit sowohl in ihren politischen als in ihren religiösen Beziehungen nicht nach dem Osten Asiens, sondern nach dem Mittelmeere gravitirten.
^') Am besten gelingt es noch an Werken der sogen. Kleinkunst, z. B. an den bei Prisse d'Aveunes, Boites et ustensiles de toilette abgebildeten höl- zernen Löffeln, die von einer Ziclvzacklinie eingefasst sind.
■*-') Anläufe zu Ecklösungen an Plafonddelvorationen zeigen: Prisse d' Avenues, Guillochis et meandres, links oben in der Ecke, mit Zickzack; ebeudas. postes et tteurs, links unten in der Ecke, mit dem Vorläufer des Eierstabs (Fig. 23). Diese Beispiele beweisen, dass das zu Grunde liegende künstlerische Postulat auch den Altegyptern bereits klar geworden war, aber von ihnen noch nicht zur absoluten Geltung und konsequenten Durchführung gebracht worden ist.
*^) Vgl. z. B. die Steinschwelle Fig. 34 nach Layard, Ninive IL 56.
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A. Altorientalisches.
Reiches von Egypten auftretende Pllanzenornament") auf asiatischen Ursprung' zni'ückzuführen wäre. Der Umstand, dass Palmctte und Ro- sette im ersten Jahrtausend v. Ch. das beliebteste Ornament der assy- rischen Kunst ausgemaclit haben, beweist noch gar niclits für einen mesopotamischen Ursprung dieser Motive. Noch umfassendere Verwen- dung hat die Palmette späterhin in der griechischen Kunst gefunden, und doch Avird kaum Jemand behaupten, dass sie von den Griechen selbständig erfunden worden ist. Audi niüsste es autfällig erscheinen,
Fig. 33. Gemaltes assyrisches Bordliroiimuster.
dass die Egypter, Avenn sie schon Rosette und Palmctte entleJint hätten, gerade das beliebteste Bordenmotiv der ^^lesopotamier — das sofort zu betrachtende Flechtband — niclit anch in ilii'c Ornanieiitil< aufgenommen lijibfu sollten.
betrachten wir einmal eine Wandborde (Fig. 33)'^), die sieh auf emaillirten Ziegeln im Schutte des ältesten ninivitischen Palastes aus derzeit des Assurnasirpal (10. Jaln-li. v. Cli.) gefunden hat. Wir gcwalircn
••*; Nur der Hltcren Form der Lotusblütiie (Fi^-. 1) und dem souen. Pa- ])yrus will Svl)el die egyptisclie Provenienz ciuräumen. *'■') Aus Layard, Ninivc T. Hfi.
2. Mesopotamisches. 89
da einen Mittelstreifen, gebildet durch ein Flechtband, beiderseits be- säumt von einer Eeihe von Pflanzenmotiven, die mittels abgeflachter, bandartiger Bogenlinien unter einander verbunden sind.
Was zunächst das Flechtband betrifft, so kann dasselbe als beson- ders charakteristisch für die mesopotamische Kunst bezeichnet werden, da sich gleichartige Vorbilder in der egyptischen Kunst Insher nicht gefunden haben^^). Ueber seinen Ursprung hat man sich bisher kaum welchen Zweifeln hingegeben. Seit Semper die Parole vom „Urzopf" ausgegeben hat, galt die Abkunft des Flechthandes vom Zopfgeflecht für ausgemacht. Wer sich aber nicht bedingungslos zum herrschenden Kunstmaterialismus bekennen will, wii'd doch fragen, was denn die Menschen veranlasst haben konnte, gerade ein so untergeordnetes Ding wie einen Zopf zu kopiren, um damit die für ewige Dauer be- rechneten Monumente zu schmücken? Wer in den linearen geometri- schen Ornamenten nicht mehr Abschreibungen von Zäunen und Bast- geweben erkennen will, wird dies auch vom Zopf nicht mehr noth- wendig finden. Sein eigenes Ebenbild, sowie gewisse, durch ihre Stärke oder Nützlichkeit auffällige Thierspecies , hat der Mensch wohl zu Schmückungsz wecken aus der Natur direkt kopirt, späterhin schön gegliederte Vasen und schlanke Kandelaber u, s. w. Dass ihm aber daneben der Zopf selbst als Träger des Formschönen aufgefallen wäre, kann nur in der Vorstellung eines Kunstmaterialisten ernsthaft glaub- lich erscheinen, und dass ein ganzes Zeitalter daran nichts Bedenk- liches finden konnte, Avird manchem Späteren Veranlassung geben, auf unsere eigenthümlich verbildeten Kunstanschauungen mit einer nicht ganz unverdienten Geringschätzung zurückzublicken.
Innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Pflanzenornaments hat das Flechtband nur einmal bei den Griechen, in verhältnissmässig vor- geschrittener Zeit, eine untergeordnete Rolle gespielt (Fig. 84). Ich erachte mich daher der Nothwendigkeit überhoben, die müssigen Ab- leitungsversuche für primitive Ornamente abermals um einen vermehren zu sollen. Dass ich geneigt sein werde, das Flechtband unter die
■"') Goodyear weiss allerdiug-s auch das Flechtbaud in Verbindung mit seiner Lotus-Theorie zu bringen : the guilloche is an abbreviated spiral scroll. Hienach wäre das Flechtband aus der Spiral- Welle entstanden. Für diesen Uebergangsprocess, der übrigens meiner Ueberzeugung nach mit dem Lotus gar nichts zu thun haben würde, Avüsste ich aber nur ein einziges stützendes Beispiel aus verhältnissmässig später Zeit, nämlich aus mylvenischem Gebiete (Schliemann, Mykenä 288, Fig. 359) anzuführen.
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linearen Compositionen nach den allcinigiii forragebenden Gesetzen von Symmetrie nnd Rliytbmus zu zählen, brauche ich nach all dem Gesagten kaum ausdi'üoklich zu erwähnen. Weit wichtiger für die besonderen Zwecke unserer Untersuchung sind die das Flechtband in Fig. 33 besäumenden Pflanzenmotive. Wir erkennen darin dreierlei verschiedene Motive: eine Knospe, eine Palmette und eine dreispaltige Blüthe. Und zwar ist die rhythmische Reihenfolge, in welcher die drei Motive wiederkehren, folgende: Palmette, Knospe, Palmette, Blüthe, Palmette, Knospe u. s. f. Es ist dies dieselbe Art der gruppemveisen Alternirung dreier Elemente, die wir bereits in der egyptischen Orna- mentik (Fig. 22) angetrofi"en haben, nur mit dem Unterschiede, dass dort die Lotusblüthe und hier die Palmette das doppelt wiederkehrende, also das Hauptmotiv bildet, und das palmettcnfächerartige Blüthen- motiv jener egyptischen Borde hier durch das unzAveifelhafte Palmetten- motiv selbst ersetzt erscheint.
Diskutiren wir nun die Formen im Einzelnen, wobei wir die Art ihrer Verbindung untereinander vorläutig ausser Acht lassen wollen. Am wenigsten ist über die Form der Knospe zu sagen; auffällig gegen- über den egyptischen Seitenstücken ist hier nur die schuppenförmige Musterung^'). Die Palmette zeigt dagegen schon grössere Abweichungeu vom egyptischen Schema des Lotus in halber Vollansicht (der egyp- tischen Lotus -Palmette (Fig. 16)). Während an letzterer Keleli und Fächer sich proportioneil ziemlich die AVage- halten, ja eher der Keleh überwiegt, ist an dem assyrischen Beispiel der Fächer das weitaus Uebei'wiegende geworden. Der Kelch zeigt nicht mehr die starken Voluten des egyptischen Motivs, sondern ist aus zwei schwachen nach abwärts umgebogenen Hörnchen gebildet. Ferner hat sich zwischen Kelch und Fächer ein zweiter ausgeprägterer Kelch einge- schoben, dessen stark betonte Voluten sicli nach aufwärts einrollen. Trotz di(,'ser Verschiedenheiten erscheint mir der Zusannnenhang mit der e^'-yr)tischen Palmette doch unabwcislich. Es ist eine ganz eigen- tliümliclie Projektion, die dem einen a\ je dem ander*'!! I\lotiv zu Grunde liegt nnd kaum beiderseits selbständig erfunden ^<-\\\ kann. :Man Iiat auch Zwischenformen, die vom egyptischen Lotus zu der assyrischen Palmette führen sollen, in gewissen Erscheinungen der phönikiscbcn Kunst zu erkennen geglaubt, über welchen Erklärungs- versuch weiter unten bei Betrachtung der i>hünikischen Pflanzenorna-
") Mö^^iiclierweisc li;il»cn die, Mesopotaniicr in der Tliat, wie man meint, dern Knospcninotiv die Bedeutung des Piuienzapt'cns untergelegt.
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inentik die Rede sein soll: hier Avill ich nur vorausschicken, dass gerade dasjenige Motiv, das in der assyrischen Palmette völlig neu zu sein scheint — der nach aufwärts eingerollte obere Volutenkelch — bereits in der egyptischen Pflanzenornamentik seine Vorbilder gehabt hat. Vollständig verfehlt wäre es aber, an die Palme als das natür- liche Vorbild der assyrischen Palmette zu denken. Allerdings sind die Fächer der Palmen auf assyrischen Reliefs in ähnlicher Weise dar- gestellt wie die Fächer der Palmette, aber es fehlt dort überall gerade der charakteristische Bestandtheil jeder Palmette: der Volutenkelch. Man mag vielmehr die Zeichnung des Fächers für die Palme von der fertigen ornamentalen Form der Palmette entlehnt haben, als eine sich ungesucht darbietende Lösung, aber gewiss nicht umgekehrt ^^).
Was endlich das dritte Motiv unserer in Diskussion stehenden Borde, die dreiblättrige Blüthe anbelangt, so lässt auch sie sich auf den egyptischen Lotus beziehen, und zwar allerdings nicht auf die typische Form der Lotusblüthe, sondern auf ein seit dem Mittleren Reiche (11. bis 12. Dynastie) sehr gebräuchliches, aber auch schon im Alten Reiche*^) nachweisbares, bekrönendes Motiv (Fig. 37), das SybeP^) als Vasen erklären wollte, Aveil es oft spitz zulaufend vorkommt und in dieser Form seine Analogien mit bildlich dargestellten Vasen besitzt. Häufig läuft es aber nach oben nicht spitz, sondern im Schema der Lotus- blüthe^') aus, und deshalb möchte ich dieses egyptische Motiv auf den Begriff" der Lotusljlüthe und Knospe zurückführen, von deren so über- Aviegender Anwendung in krönender Funktion schon oben (S. 58) die Rede gewesen ist. Was mich an unserer assyrischen Borde in der gegebenen Ableitung noch bestärkt, ist erstens die ausgeschAveifte Um- risslinie der Blüthe, dann die flache Form der verbindenden Bögen. Das egyptische Motiv ist nämlich häufig ebenfalls auf zAvei divergirende Stengel aufgesetzt (Fig. 37), die allerdings nicht in Bogenform nach rechts und links Aveit erlaufen, sondern Avie ZAvei selbständige stützende Füsse auf der Grundlinie absetzen^-).
■*'^) Zwischen den Blättern der Palmettenfächer treten hie und da (Layard I. 47, Perrot u. Ch. II, Fig. 137) au Stengeln Pinienzapfen vor, die Avahrscheinlich um einer symbolischen Bedeutung AAällen beigefügt Avurden. An den Palmen der assyrischen Reliefs historischen Inhalts hängen dagegen die Früchte am unteren Ansätze des Fächers vom Stamme herab.
") Lepsius II. 101.
^'^) a. a. 0. 6.
^') Lepsius III. 21.
^-) Ebendaselbst.
92 -^ Altorientalisches.
Im Allgemeinen ist nun von den besprocheneu assyrischen Pflcin- zenmotiveu gegenüber den egyptischen zu sagen, dass die ersteren eine unverkennbare Fortbildung in rein ornamentalem Sinne vorstellen. Es fällt hier noch viel schwerer, die zu Grunde liegenden Xaturformen zu erkennen, als angesichts der egyptischen Stilisirung. Unter denselben Gesichtspunkt fällt auch die farbige Musterung in querlaufendem Zickzack, das Zusammenbringen von Motiven, die in der egyptischen Kunst streng geschieden waren (aufwärts gerollter Yolutenkelch und gewöhnlicher Palmettenfächer), endlich die eigen- thümliche Art der Verbindung der einzelnen Motive untereinander, was uns auf die Betrachtung der letzteren überführt.
Die Verbindung der gereihten Pflanzenmotive mittels fortlauf ender Bogenlinien hatte, wie wir gesehen haben, bereits in der Kunst der Eamessiden in Egypten statt. Waren es dort wirkliche schon ge- schwungene Rundbogen, so bringen die Flachbogen an der assyrischen Borde Fig. 33 einen minder günstigen Eindruck hervor. Es wurde aber kurz vorhin auseinandergesetzt, imviefern dies dennoch mit egyp- tischen Vorbildern zusammenhängen könnte. Dagegen bemerken wir an Fig. 33 gewisse Elemente in die Verbindung eingefügt, die wir an den egyptischen Vorbildern vermissen, und die sowohl eine Fortbildung im omamentalen Sinne, als auch einen fruchtbaren Anknüpfungspunkt für die nachfolgende Entwicklung darbieten. Die verbindenden, im Flachbogen geführten Bänder setzen nämlich nicht so wie]^die egyp- tischen Rundbogen (Fig. 22) unmittelbar an dem unteren Ende der Pflan- zenmotive ab, sondern sie erscheinen mit diesen durch ein zusammen- lassendes Heftel, eine Junkiur, verbunden, oberhalb deren überdies bei der Knospe sich die beiden verbindenden Bänder, sowohl das von links als das von rechts kommende fortsetzen und volutenförmig übersclilagen, und auf solche Weise für die Knospe denselben Kelch bilden, di-r an df-r Palmette bereits von den egyptischen Vorbildern her vorhanden Avar. Aber die Blüthe erscheint allein durch die Junktnr mit den Bogen- bändem verbunden. Der Kelch am Ansätze der Knospe nud die Junkturen bezeichnen somit Zusätze, die wir auf Rechnung einer bewusst dekorativen Fortbildung seitens der Mesopotamier setzen dürfen^').
Was besonders dazu veranlasst hat das Abhängigkeitsverhältniss
") W<'iiii;;lcicli iiucli hiclür scliücliteriie Anläng'C bereits in der egyp- tischen Kunst nachzuweisen sind: für die Junkturen z. B. bei Prisse d'A., couronneraents et frises fieuroiinees 8, frises flenroniiees !; für Lotusknospen mit Vobitenkejchen Lepsius III. 02.
2. Mesopotamisches. 93
der mesopotamischen von der egyptischen Kunst umzukehren, war der Umstand, dass uns an späteren assyrischen Denkmälern, aus der Zeit der Sargoniden (8. und 7. Jahrh. v. Ch.), eine weit engere Anlehnung an egyptisehe Vorbilder entgegentritt als an den früheren, aus dem 10. Jahrhundert stammenden, was offenbar auf Rechnung der unmittel- baren Berührung zu setzen ist, in welche die Assyrer in der Sargoniden- zeit mit den Egyptern gerathen waren^*). Da hatte man nun zweifellose assyrische Nachahmungen egyptischer Motive und folgerte daraus, jene abweichenden älteren Formen aus Assurnasirpals Zeit müssten Original- schöpfungen der Mesopotamier gewesen sein, und wenn schon ein Ab- hängigkeitsverhältniss zwischen beiden Kunstgebieten existirte, so müssten eher die Egypter die Empfangenden gewesen sein, nachdem sie durch die Invasion der Hyksos mit den asiatischen Semiten in engste Berührung gerathen waren. Mit mindestens ebenso gutem Grunde lässt sich aber eine andere Erklärung für die Stilwandlung in der assyrischen Pflanzenornamentik geben, die sich mit der Thatsache des nachweislich höheren Alters der egyptischen Kunst gegenüber der mesopotamischen besser verträgt: die Erklärung nämlich, es möchten jene älteren assyrischen Imitationen egyptischer Pflanzenmotive auf indirektem Wege nach Mesopotamien gelangt sein, — vielleicht schon vor der Zeit, da in Egypten das Neue Reich aufgerichtet ward. Als aber die Assyrer aufs Neue die egyptisehe Kunst aus unmittelbarer An- schauung kennen gelernt hatten, da begannen sie Lotusblüthe und Knospe in der streng egyptischen Form zu imitiren, ohne vielleicht auch nur zu ahnen, dass sie damit in ihre Ornamentik im Grunde nichts Neues einführten. Macht doch die ganze Kunst der Chaldäer und Assyrer den Endruck, dass diese Völker, auf den Schultern eines älteren Kulturvolks emporsteigend, an das Kunstschaffen desselben eine zielbe- wusste Fortsetzung geknüpft haben, so wie später die Griechen ihrerseits auf den Errungenschaften der altorientalischen Ornamentik weiterbauten. Betrachten wir nun ein solches egyptisirendes Bordürenmotiv aus der Sargonidenzeit (Fig. 34). Wir haben da